Getäuscht - Thriller
zum Opfer gefallen waren, hatte die Edgware Road noch nicht erreicht.
Haus Nummer 61 stand an einer begrünten Ecke, gegenüber von einem Tabakwarenladen und einem arabischen Gemüsehändler. Wie versprochen, war die Tür nicht abgeschlossen. Im Eingangsbereich roch es nach gebratenem Lammfleisch und Zigarrenrauch. Durch die dünnen Wände konnte Jonathan laute ausländische Stimmen hören. Er stieg die Treppe bis zum zweiten Stock hinauf. Mit dem Schlüssel, den er von Thomson bekommen hatte, ließ die Tür sich mühelos aufschließen. Jonathan betrat eine heruntergekommene, fast leere Wohnung. Der Linoleumfußboden war feucht und wellig. Im Fensterrahmen steckte anstelle einer Glasscheibe eine Sperrholzplatte. Von der Zimmerdecke baumelte eine nackte Glühbirne. Jonathan drückte auf den Lichtschalter, aber nichts tat sich. Nach zwanzig Sekunden hatte er seinen Rundgang durch sämtliche trostlosen Zimmer abgeschlossen. Die Wohnung war unbewohnt und vollkommen leer, mit Ausnahme einer aufgeschlitzten Matratze, ein paar kleinen Abstelltischen und einem alten schwarzen Telefon aus den Sechzigern mit einer Wählscheibe, das im Wohnzimmer auf dem Fußboden stand.
»Warten Sie auf unseren Anruf«, hatte Thomson gesagt. »Wir müssen auf Nummer sicher gehen, dass Ihnen niemand gefolgt ist.«
Jonathan nahm den Hörer ab und hörte ein Freizeichen. Er hoffte inständig, dass die Überwachungsmethoden von Emmas Freunden besser und zeitgemäßer waren als dieses Telefon. Er fuhr sich mit der Hand über den Mund. Nun klingel schon!, beschwor er den Apparat. Sagt mir, wo ich Emma treffen soll! Er warf einen Blick auf die Uhr: kurz vor 19.00 Uhr. Durch die vor Schmutz blinden Fenster drangen ein paar hartnäckige Sonnenstrahlen und tauchten die Zimmer in ein bizarres Licht. Jonathan versuchte, eines der Fenster zu öffnen, aber es war zugenagelt.
Fünf Minuten verstrichen. Jonathan wartete. Nach weiteren fünf Minuten trat er erneut ans Fenster und blickte auf die Straße. Der Feierabendverkehr kroch im Schneckentempo vorüber. Er ging in der Wohnung auf und ab, bis er die Spannung nicht mehr ertragen konnte. Den Rücken an die Wand gedrückt, die Beine lang ausgestreckt, setzte er sich auf den Boden und ließ das Telefon keine Sekunde aus den Augen. Doch die Untätigkeit nervte ihn nur noch mehr.
In der Wohnung war es warm und stickig. Nach den beiden Bieren, die er im Hotel getrunken hatte, knurrte ihm der Magen. Das Warten machte ihn verrückt. Unvermittelt sprang er auf und versuchte, mit Gewalt die Fenster zu öffnen. Mittlerweile lief ihm der Schweiß den Rücken hinunter und tropfte ihm von der Stirn.
In diesem Moment läutete das Telefon.
Jonathan nahm den Hörer ab. »Hallo?«
»Und ich dachte all die Jahre, dass es für dich gar nicht heiß genug sein kann.«
Emma.
Aber die Stimme mit dem britischen Akzent kam nicht aus dem Telefonhörer. Jonathan fuhr herum und sah Emma im Türrahmen stehen. Sie verstaute ihr Handy in ihrer Hosentasche.
»Hi«, sagte er. »Hi.«
»Was machst du denn hier in London?«
»Ein Bekannter von mir ist gerade in der Stadt. Ich dachte, es wäre nett, ihn zu treffen. An alte Zeiten anknüpfen. Du weißt schon.«
»Ja.«
Emma strich sich eine Locke hinter das Ohr. Jonathan sah, dass ihre Augen feucht waren. Er ging langsam auf sie zu und versuchte dabei, jedes Detail ihres Gesichts und ihres Körpers in sich aufzusaugen. Sie war genau so gekleidet, wie er es von ihr kannte. Enge Jeans, schwarzes T-Shirt, Sandalen. Ihr rotbraunes Haar fiel lockig bis auf die Schultern. Ein Armband aus Elefantenhaar zierte ihr linkes Handgelenk. Um den Hals trug sie ein Schmuckstück aus Jade, das er ihr zum fünfundzwanzigsten Geburtstag geschenkt hatte.
Er legte die Hand auf ihre Wange und blickte in ihre grünen Augen. Sie wich seinem Blick nicht aus. »Schön, dich zu sehen ...«
Bevor er weitersprechen konnte, küsste sie ihn zärtlich auf die Lippen. »Du hast mir gefehlt«, sagte sie, während ihre Lippen sich langsam über seine Wange zum Ohr bewegten.
»Du mir auch.« Jonathan nahm sie in die Arme und zog sie näher zu sich. »Bist du schon lange hier?«
»Ein paar Tage.«
»Du siehst gut aus. Besser als bei unserer letzten Begegnung.«
»Damals hast du mir eine Kugel aus der Schulter geschnitten.«
»Und ich dachte, ich hätte sie behutsam entfernt.«
»Behutsam oder nicht, es hat jedenfalls höllisch wehgetan.«
»Dein Gedächtnis ist bemerkenswert.«
»Du weißt doch, wie es so
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