Getäuscht - Thriller
frische Morgenluft zu. Eine moderne Klimaanlage wie in Lord Russells Apartment gab es in ihrer Wohnung nicht. Obwohl East Finchley nur gut elf Kilometer von der Park Lane entfernt war, lagen zwischen den beiden Wohngegenden Welten. Mit einem Seufzer entsorgte Emma das Müsli und die Milch im Müll. Das Ende ihres ersten Arbeitstages hatte sie sich ein wenig anders vorgestellt.
Sie stieg die Treppe hinauf und ging ins Bad, zog sich aus und warf ihren Anzug und die Bluse auf den Boden. Sie würde die Sachen später in die Reinigung bringen. Es gefiel ihr zwar nicht, zehn Pfund für die Reinigung bezahlen zu müssen, aber sie wollte nicht in ungewaschenen und nach Schweiß riechenden Sachen herumlaufen. Sie stieg in die Duschkabine und drehte das Wasser auf. Der Duschstrahl prasselte wie Hagelkörner auf ihre Haut, genau wie sie es mochte. Sie wusch sich die Haare, seifte sich ein und massierte mit einem Luffa-Schwamm Arme und Beine. Nur um die Narbe über ihrer Hüfte machte sie einen Bogen. Nach ihrer Entlassung aus dem Krankenhaus vor einem Monat war diese Narbe dick und geschwollen gewesen. Die Kugel war von hinten dicht über der Milz eingedrungen und vorn aus dem Körper ausgetreten, wobei sie ziemlich viel Gewebe zerstört hatte, wie für Hohlspitzgeschosse typisch. Die Ärzte hatten erklärt, es grenze an ein Wunder, dass die Kugel keine Hauptschlagader oder innere Organe verletzt habe.
Kate blieb so lange unter der Dusche, bis das Wasser eiskalt geworden war. Sie drehte den Hahn erst zu, als ihre Haut vor Kälte gefühllos wurde und sie am ganzen Körper zu zittern anfing. Das taube Gefühl half ihr, die Stille besser zu ertragen. Das kräftige Trockenrubbeln mit dem Handtuch, um die Blutzirkulation wieder in Gang zu bringen, lenkte sie davon ab, dass kein Radio zu hören war, unterbrochen vom Klappern der Frühstücksteller und einer Männerstimme, die ihr im Eastend-Dialekt zurief, sie solle sich beeilen, damit sie rechtzeitig zur Arbeit kämen.
Im Spiegel an der Wand fiel Kates Blick auf ihren Körper, der so dünn war wie nie zuvor. Sie starrte auf ihre sehnigen Oberarme mit der bleichen Haut, auf ihr hervortretendes Becken und die Narbe. »Die Kugel hat einen der Eierstöcke zerfetzt und die äußere Gebärmutter verletzt«, hatte der behandelnde Arzt ihr mit ehrlichem Mitgefühl gesagt. »Um die Blutung zu stoppen, mussten wir die Gebärmutter entfernen. Es tut mir sehr leid.«
Er hatte mit keinem Wort das Baby erwähnt, obwohl er sicher Bescheid wusste. Nach sechs Wochen konnte man garantiert schon etwas erkennen. Vielleicht hatte er erwartet, dass sie ihn nach dem Baby fragen würde. Oder er war davon ausgegangen, dass sie noch nichts davon gewusst hatte und hatte sie schonen wollen. Kate hatte nie erfahren, ob es ein Junge oder ein Mädchen geworden wäre.
Sie strich mit dem Finger über die Narbe und spürte einen Stich, so schmerzhaft wie von einem Messer. Sie stöhnte auf und starrte auf die Fremde im Spiegel mit dem verängstigten Blick und der gekrümmten Haltung. »Warum weinst du nicht?«, fragte sie ihr Spiegelbild. »Niemand kann dich sehen. Bis jetzt bist du stark gewesen. Hier musst du niemandem beweisen, wie hart du bist. Das ist die Gelegenheit.«
Der Schmerz ließ nach, und Kate richtete sich wieder auf. Ohne eine einzige Träne zu vergießen, drehte sie dem Spiegel den Rücken zu und wickelte sich ein Handtuch um den Körper.
An der Hintertür war ein lautes Klopfen zu hören.
Kate eilte mit ihrem Handtuch die Treppe hinunter und steckte den Kopf durch die Küchentür. In ihrer Küche stand ein großer Mann mit blasser Haut. Er stand ganz selbstverständlich da, als wäre es ganz normal, sich in einer fremden Wohnung aufzuhalten. Er trug einen dunklen Anzug und hatte die Hände in den Taschen vergraben.
»Ich glaube, Ihre Milch ist sauer«, sagte er.
»Was wollen Sie hier? Wer sind Sie überhaupt?«, fragte Kate mit aufkeimendem Zorn.
»Tut mir leid, dass ich hier einfach so hereinplatze. Ich habe schon eine Weile an Ihre Tür geklopft und wollte kein Aufsehen bei den Nachbarn erregen. Mein Name ist Graves. Ich komme vom Five.«
»Five« war die Insiderbezeichnung für den MI5, den britischen Geheimdienst. Bei dem lässigen, beinahe arroganten Auftreten des Mannes hätte Emma es eigentlich wissen müssen. Er sah aus wie ein Athlet mit stahlhartem Rückgrat.
»Welche Abteilung?«
»Abteilung G.« Die Abteilung G des MI5 befasste sich mit der Terrorbekämpfung mit Ausnahme
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