Geteiltes Geheimnis
Lippen kommen. Hast du verstanden? Schon gar nicht, wenn eine Frau von ihrem eigenen Sexualverhalten redet, und ganz besonders nicht , wenn sie das einer anderen Frau beschreibt. Ein solches Wort ist verletzend, Cassie.«
Ich war verblüfft. Noch nie hatte Matilda einen solch scharfen Ton angeschlagen.
»Dieses Wort wurde auf der ganzen Welt als Waffe gegen Frauen eingesetzt, und zwar von Anbeginn der Zeit, damit wir uns wertlos und anders fühlen. Besonders tragische Konsequenzen kann es für jüngere Frauen haben. Einige reagieren verschlossen, einige verlieren ihr Selbstvertrauen, andere die Lust, die eigene Sexualität zu erforschen. Wieder andere leben bis an ihr Ende in sexueller Scham.«
Ich hatte bisher nur wenig über so was nachgedacht, aber ich kannte das Gefühl der Scham, das Gefühl, dass etwas falsch daran war, sich Sex zu wünschen und ihn zu genießen. Seit ich mich S.E.C.R.E.T. angeschlossen hatte, verschwand die Scham nach und nach. Tatsächlich kam es mir nun lächerlich vor, an diesen alten patriarchalischen Gedanken festzuhalten.
Nun kam mir eine Idee. »Wenn Scham das Leben von Frauen so sehr vergiftet, warum arbeitet S.E.C.R.E.T. dann nicht in aller Öffentlichkeit? Das wäre eine Möglichkeit, Stigma und Doppelmoral zu bekämpfen. Warum sollte der Begriff ›Nutte‹ nur eine Beleidigung für Frauen sein und nicht auch für Männer gelten?«
»Ich werde dir jetzt eine Frage stellen: Wenn wir an die Öffentlichkeit gingen, würdest du zugeben, ein begeistertes Mitglied einer Gruppe von Frauen zu sein, die für andere Frauen sexuelle Fantasien arrangiert? Würdest du mit der Welt sämtliche tollen Männer teilen wollen, die du je getroffen hast, und allen von den herrlichen Dingen berichten, die du mit den Männern bei S.E.C.R.E.T. geteilt hast?« Sie schob ihre Sonnenbrille nach oben, um mir direkt in die Augen zu sehen. Jetzt hatte sie mich am Wickel. Diesem prüfenden Blick konnte ich einfach nicht standhalten. »Wir können die Welt nicht verändern, Cassie. Aber wir können zur Befreiung von Frauen beitragen – eine Frau der anderen. Ihre Scham mindern. Mehr können wir nicht erreichen. Und jetzt erzähl mir alles über den jungen Mann, mit dem du geschlafen hast.«
»Na ja, also. Ich mag ihn. Ich bin gern mit ihm zusammen. Aber wenn ich ihn nicht sehe, denke ich nicht an ihn. Dann fühle ich mich schuldig, weil ich mehr für ihn empfinden sollte, oder?«
»Sollte, sollte nicht – wen kümmert das schon?«, sagte sie und machte eine wegwerfende Handbewegung. »Ich finde es gesund und komplett notwendig, dass eine sechsunddreißigjährige Frau wie du tollen Sex mit einem jüngeren Mann hat, von dem sie sonst nichts will. Darf ich dich etwas fragen? Warst du ihm gegenüber ehrlich in Bezug auf deine Wünsche?«
»Ja.«
»Habt ihr einvernehmlich miteinander geschlafen?«
»Natürlich.«
»Hast du Schutzmaßnahmen ergriffen?«
»Ja.«
»Na, dann ist doch alles gut für dich! Es macht sicher großen Spaß, dass du wieder eins mit deinem Körper bist und dich auf einen Mann einlassen kannst. Also, ich will von Nutten nichts mehr hören, okay? Kein Urteil. Keine Grenzen. Keine Scham. Das gilt auch für die Art und Weise, wie du über dich selbst denkst.«
Dies schien mir ein guter Zeitpunkt zu sein, noch jemand anderen zur Sprache zu bringen – jemanden, den ich in der Tat wiedersehen wollte und für den ich immer noch etwas empfand.
»Wie geht es Jesse?«, fragte ich so beiläufig wie möglich. »Ist er der Nächste auf Dauphines Fantasien-Liste?«
»Ich glaube schon«, antwortete sie und schaute wieder auf den Fußballplatz. »Er war dein Dritter. Wir finden, er sollte auch Dauphines Nummer drei sein.«
Autsch . Ich mied ihren Blick, aber sie beobachtete ohnehin einen knackigen, verschwitzten Fußballspieler, der vornübergebeugt, mit den Händen an den Knien, dastand und versuchte, Atem zu schöpfen. Er war um die dreißig und sah südländisch aus. Vielleicht stammte er aus Südamerika oder Italien. Nicht allzu groß, stämmig, durchtrainiert, mit zerzaustem schwarzem Haar und Zähnen so weiß, dass sie sogar noch aus zehn Meter Entfernung blitzten.
»Siehst du den da?«, fragte sie.
»Kann man wohl kaum übersehen«, antwortete ich. »Kennst du ihn?«
»Wir sind dabei, ihn anzuwerben. Angela sollte eigentlich heute meine Flanke bilden. Diese Aufgabe fällt jetzt dir zu.«
»Jetzt?«
» Los, ran an den Ball! «, schrie Matilda. »Schätzchen, ich weiß, was du in
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