Geteiltes Geheimnis
lang beiseite, um das Kleid zu bewundern, die fachkundige Verarbeitung des Mieders zu bewundern. Es war handgenäht und mit Paspeln verziert, die strategisch so geschickt angebracht waren, dass sie das Korsett verdeckten, welches es in Form hielt.
Der asymmetrische Saum des Kleides erinnerte in der Tat an Tango. Obwohl mir Rot durchaus stand, konnte ich nicht behaupten, dass dieses Kleid meinem Stil entsprach. Nein. Überhaupt nicht. Ein dünner Schweißfilm bildete sich auf meiner Stirn. Ich konnte nicht, würde nicht vor anderen Leuten tanzen. Nicht mit meinem Körper, nicht in diesem Kleid. Und Cassie und Matilda hatten mir ja immer wieder vor Augen geführt, dass es bei S.E.C.R.E.T. darum ging, alles zu tun, was man wollte – aber nichts, das man nicht wollte.
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Bis zur Tango-Show sollte es noch ein paar Stunden dauern. Ich ging also im Trenchcoat und bequemen Schuhen auf die Straße hinaus. Buenos Aires war cool, laut und geschäftig, die Mischung aus Alt und Neu traf einen an jeder Straßenecke. Und die Porteños schienen ihre Stadt draußen genauso sehr zu lieben wie die New Orleanser. Selbst an diesem kühlen Herbsttag war die Plaza San Martín voller Spaziergänger und Radfahrer. Hunde verschiedenster Größen zerrten an Dutzenden von Leinen, die von unglaublich ausdauernden Spaziergängern gehalten wurden. Eine warme Woge erfasste meinen ganzen Körper. Ohne S.E.C.R.E.T. hätte ich niemals mitten auf diesem Platz gegenüber der Casa Rosada gesessen und alten Männern in teuren Tweedmänteln beim Schachspiel zugesehen, während nicht weit von uns die Paare miteinander in der Sonne turtelten.
Ich ging durch die Straßen von Recoleta bis Palermo, von San Telmo bis Boca, streifte durch Secondhand-Läden, fragte nach Lieferanten und danach, was sie für ihre Waren nahmen. Das Erste, was ich in dieser Stadt voller dünner Braunhaariger mit Adlernasen (manche ererbt, die meisten erworben) feststellte, war, dass meine kurvenreiche, amerikanische Figur auffiel. Nichts, was ich in den Secondhand-Läden anprobierte, passte wirklich, weshalb sich einige der Verkäufer sogar noch mehr schämten als ich selbst.
»¡Lo siento, señora!« , sagte der winzige, nervöse Besitzer eines sehr hübsch hergerichteten Secondhand-Geschäfts in der Nähe des Recoleta-Friedhofs. In einem anderen Laden bekam ich den Bleistiftrock gar nicht zu. »Meine Liebe«, bemerkte ein freundlicher, älterer Angestellter in perfektem Englisch. Er spürte meine Verlegenheit, während er zwei Geschirrhandtücher und ein Tischtuch aus Leinen abrechnete. »Seien Sie bloß nicht traurig wegen Ihres Körpers. Es ist ein guter Körper.«
Ich dankte ihm und ging, wobei ich auf den schmalen Bürgersteigen erfolglos versuchte, mich wie eine Einheimische zu verhalten. Ich stolperte über die Schlaglöcher, während ich Wasserspeier oder Kuppeln an beeindruckenden Gebäuden bewunderte.
In La Boca aß ich die leckeren alfajores , argentinische Doppelkekse mit einer Füllung aus Dulce de Leche, und nippte an meinem Matetee. Dabei beobachtete ich ein älteres Paar, das miteinander in aller Öffentlichkeit Tango tanzte. Er war ein paar Zentimeter kleiner als sie und halb so schmal, sie trug zu viel Make-up für diese Tageszeit. Aber diese Merkwürdigkeiten machten sie umso attraktiver und faszinierender. Die Art und Weise, wie sie für ein paar Fremde, die sich auf dem Platz versammelt hatten, tanzten, war auf schmerzhafte Weise innig. Die Musik rührte mich fast ebenso zu Tränen wie die Mischung aus Schmerz und Liebe auf ihren Gesichtern. Wenn sie sich vor so vielen Menschen so verletzlich zeigen konnten, wovor hatte ich zum Teufel noch einmal dann Angst? Vielleicht war das wahre Großzügigkeit. Sich selbst so zu geben, wie man war, einfach nur um des Tanzes willen.
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In dieser Nacht brauchte ich Ernestos dargebotene Hand tatsächlich, damit er mir aus dem Auto half und die Unmenge an roten Federn meines Tango-Kleides ordnen konnte. Ich war nicht im Geringsten überrascht, dass das Kleid perfekt passte. Doch ich war geradezu erschrocken, wie sehr es mir schmeichelte. Das Mieder umschmiegte meinen Oberkörper ganz eng, wodurch meine Brüste sehr vorteilhaft hervorgehoben wurden. Unter der tiefen Taille mündete das Kleid in eine bauschige Federwolke, die bis hinunter zu meinen Waden floss. Ich fühlte mich wie eine Göttin, die einem purpurroten Ozean entstiegen war.
» Gracias .«
»De nada« , antwortete er und verbeugte sich
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