Getrieben - Durch ewige Nacht
Blume.« Er imitierte Perrys tiefe Stimme und seine gedehnte Sprechweise perfekt. »Komm her, meine süße Rose.«
Aria boxte ihn auf die Schulter, was ihn aber nur zum Lachen brachte. »
Veilchen
. Und dafür wirst du bezahlen, wenn ich Liv kennenlerne.«
Das Lächeln verschwand aus Roars Gesicht. Er fuhr sich mit der Hand durch sein dunkles Haar, setzte sich auf und wurde still, während er auf die sich brechenden Wellen starrte.
»Noch immer keine Nachricht?«, fragte sie leise. Seit Perrys Schwester sich im letzten Frühjahr aus dem Staub gemacht hatte, war Roar todunglücklich.
Er schüttelte den Kopf. »Kein Wort.«
Aria setzte sich auf und rieb sich den Sand von den Händen. »Du wirst bald von ihr hören. Sie wird schon wieder auftauchen.« Sie wünschte, sie hätte Liv nicht erwähnt. Roar musste ihre Abwesenheit hier, wo sie beide aufgewachsen waren, deutlicher denn je spüren.
Sie blickte über den Ozean. In weiter Ferne pulsierte blendendes Licht in den Wolken. Äthertrichter gingen dort nieder. Aria wollte sich lieber nicht vorstellen, wie es war, da draußen zu sein. Perry hatte ihr erzählt, dass Ätherstürme auf See immer eine Gefahr darstellten. Sie wusste nicht, wie die Fischer der Tiden jeden Tag den Mut aufbrachten, trotzdem hinauszufahren.
»Eine Glaswand lässt sich leicht zerbrechen, Aria.« Roar schaute sie nachdenklich an.
»Da hast du recht.« Wie kam sie nur auf die Idee, sich zu beklagen? Sie hatte es so viel leichter als er. Zumindest waren sie und Perry am selben Ort. »Du hast mich überzeugt. Ich werde das Glas zerbrechen, Roar. Bei der nächstbesten Gelegenheit.«
»Gut.
Zerschlag
es.«
»Mach ich. Und du auch, wenn wir Liv finden.« Sie wartete darauf, dass er ihr zustimmte – wünschte es sich so sehr …
Doch Roar wechselte das Thema: »Weiß Hess, dass du hier bist?«
»Nein.« Sie holte das Smarteye aus einer kleinen Tasche im Futter ihres Lederbeutels. »Aber ich muss unbedingt mit ihm Kontakt aufnehmen.« Das hätte sie schon gestern, am vereinbarten Tag, tun sollen, aber auf ihrem Weg zu den Tiden hatte sich keine Gelegenheit dazu ergeben. »Ich werde es jetzt versuchen.«
Die glatte Augenklappe, so klar und fast so geschmeidig wie ein Wassertropfen, erschien ihr nach all den sonnengebleichten und wettergegerbten Ecken und Kanten des Dorfes wie etwas aus einer anderen Welt. Es
war
ja auch aus einer anderen Welt – aus ihrer. Sie hatte dieses Gerät ihr ganzes Leben lang getragen, ohne je darüber nachzudenken. Alle Siedler trugen es. So bewegten sie sich durch die Welten. Erst seit Kurzem graute ihr vor dem Smarteye. Und das verdankte sie Konsul Hess.
Aria nahm das Smarteye und legte es über ihr linkes Auge. Es saugte sich an der Haut rund um ihre Augenhöhle fest und erzeugte einen vertrauten Druck, ehe die innere Membran weicher und schließlich flüssig wurde. Sie blinzelte ein paarmal, um ihr Auge daran zu gewöhnen. Rote Buchstaben erschienen auf dem transparenten Hintergrund, schwebten vor dem Ozean, als sich das Eye einschaltete.
WILLKOMMEN IN DEN WELTEN ! BESSER ALS DIE REALITÄT !
Der Schriftzug verschwand und wurde durch die Information ZUGANGSBERECHTIGUNG WIRD ÜBERPRÜFT ersetzt.
Aria drehte den Kopf zur Seite und beobachtete, wie die Buchstaben mit der Bewegung vorüberzogen.
AKZEPTIERT . Ein vertrautes Prickeln breitete sich auf ihrer Kopfhaut aus und lief ihr Rückgrat hinunter. Nur ein einziges Icon mit der Bezeichnung HESS schwebte in der Dunkelheit. Als sie noch ihr eigenes Smarteye besessen hatte, war der Bildschirm voll gewesen mit den Icons ihrer Lieblingswelten, Nachrichtenbändern und Mitteilungen von ihren Freunden. Aber Hess hatte dieses Eye so programmiert, dass sie nur ihn erreichen konnte.
»Bist du drin?«, erkundigte sich Roar.
»Ja.«
Er legte sich in den Sand, den Kopf auf die Arme gestützt. »Weck mich, wenn du zurück bist.« Für ihn sah es so aus, als säße sie ganz ruhig am Strand. Er hatte keinen Zugang zu den Welten, die das Smarteye ihr eröffnete.
»Ich bin immer noch hier. Das weißt du doch.«
Roar schloss die Augen. »Nein, bist du nicht. Nicht wirklich.«
Mit einem gezielten Gedanken aktivierte sie das Icon und ließ Hess damit wissen, dass sie da war. Einen Sekundenbruchteil später bilokalisierte sie sich, und ihr Bewusstsein teilte sich. Es war unangenehm, aber schmerzlos – als würde man plötzlich an einem fremden Ort aufwachen. Augenblicklich befand sie sich an zwei Orten gleichzeitig: zusammen
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