Getrieben - Durch ewige Nacht
Lösung. Dann streifte sie ein weißes Unterhemd mit dünnen Trägern über, setzte sich auf die Bettkante und betrachtete ihre Arme. Durch die Tätowierungen würde sie gewissermaßen
offiziell
als Außenseiterin akzeptiert werden. Als Horcherin. Als die Tochter ihres Vaters. Hatte er ihrer Mutter das Herz gebrochen? Oder waren sie aus anderen Gründen voneinander getrennt worden? Ob sie auf diese Fragen wohl jemals eine Antwort bekommen würde?
Draußen versammelten sich die Leute auf der Lichtung. Ihre lebhaften Stimmen drangen durch das Fenster herein. Der tiefe, ruhige Rhythmus einer Trommel erinnerte Aria an einen beständigen Herzschlag. Sie hatte nun schon zwei Nächte im Dorf verbracht. Am ersten Abend hatte sie dem Stamm Anlass für Klatsch und Tratsch gegeben. Gestern hatte sie die Leute unterhalten. Was würde der heutige Abend bringen?
Aria fand das Smarteye in ihrem Beutel und hielt es in der Hand. Sie wünschte, sie könnte es benutzen, um ihre Freunde zu kontaktieren. Was würde Caleb davon halten, dass sie tätowiert wurde?
Die Eingangstür öffnete sich und fiel dann mit einem dumpfen Geräusch wieder ins Schloss. Aria stopfte das Smarteye zurück in ihren Umhängebeutel und erhob sich. Die Holzdielen knarrten, als jemand näher kam. Perry erschien an der Tür; seine grünen Augen blickten aufmerksam und ernst. Dann standen sie einander gegenüber. Sein Gesichtsausdruck wurde sanfter, ihr Puls ging schneller.
Perrys Blick wanderte zu der kleinen Figur auf dem Nachttisch, denn die minimale Veränderung im Zimmer war ihm sofort aufgefallen.
»Ich stelle ihn wieder zurück auf die Fensterbank«, sagte Aria rasch.
Er betrat den Raum und nahm den Holzfalken in die Hand. »Nein, behalt ihn. Er gehört dir.«
»Danke.« Aria warf einen Blick durch den Türrahmen in das Zimmer hinter ihm. Wieder spürte sie diese seltsame und beunruhigende Distanz zwischen ihnen – die Glaswand, die sie voneinander trennte, für den Fall, dass jemand ins Haus kam.
Perry stellte den Falken wieder ab und deutete auf ihren Beutel. »Ich dachte, wir brechen morgen in der Dämmerung auf.«
»Bist du sicher, dass du wirklich mitkommen solltest? Ich meine, nach dem, was passiert ist?«
»Ja, ich bin mir sicher«, erwiderte Perry scharf. Dann zuckte er zusammen, atmete langsam aus und fuhr sich mit der Hand übers Gesicht. »Tut mir leid. Reef hat … Egal. Entschuldige bitte.«
Die Schatten unter seinen Augen wirkten tiefer und dunkler, und seine breiten Schultern waren ein wenig gebeugt.
»Hast du überhaupt geschlafen?«, fragte sie.
»Nein … ich kann nicht.«
»Du meinst, du konntest nicht?«
»Nein.« Er lächelte matt und freudlos. »Ich meine, dass ich nicht schlafen kann.«
»Seit wann?«
»Du willst wissen, wann ich das letzte Mal eine Nacht durchgeschlafen habe?« Er zog die Schultern hoch. »Seit der Geschichte mit Vale.«
Sie konnte es nicht fassen. Er hatte seit Monaten nicht mehr richtig geschlafen?
»Aria, dieses Zimmer …« Perry hielt abrupt inne, drehte sich um und schloss die Tür. Dann lehnte er sich dagegen, hängte die Daumen in seinen Gürtel und schaute sie abwartend an, als rechnete er mit ihrem Widerspruch.
Sie hätte widersprechen sollen. Schon den ganzen Tag über hatte sie Getuschel gehört. Die Tiden waren verunsichert wegen des Sturms und wegen der Sache an der Mole. Eigentlich wollte sie dem Ganzen nicht noch mehr Nahrung geben, weil sie sich genau vorstellen konnte, wie Wylan oder Brooke von ihr als dem Maulwurf-Flittchen sprachen, das ihren Kriegsherrn verführt hatte. Aber jetzt interessierte sie das alles überhaupt nicht mehr. Sie wollte einfach nur bei Perry sein.
»Was ist mit diesem Zimmer? Du wolltest irgendetwas darüber sagen«, erinnerte sie ihn nun.
Perry nahm eine entspannte Haltung an, aber seine Augen waren hellwach und funkelten wie die Kette an seinem Hals. Draußen brach die Nacht herein, und trübes, blaues Licht drang durch die halb geöffneten Läden ins Zimmer.
»Es war das Zimmer meines Vaters«, fuhr er da fort, wo er aufgehört hatte. »Aber er war so gut wie nie hier. Er verschwand vor Tagesanbruch und verbrachte den Tag auf den Feldern oder am Hafen. Manchmal, wenn seine Zeit es erlaubte, ging er auf die Jagd. Er war gern in Bewegung. Das muss ich wohl von ihm geerbt haben. Beim Abendessen hat er immer mit den Stammesmitgliedern geredet. Er achtete stets darauf, sich für alle gleich viel Zeit zu nehmen. Das hat mir gefallen … Vale hat das nie
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