Getrieben - Durch ewige Nacht
Gerücht, das von verzweifelten Menschen verbreitet wird. Aber du solltest trotzdem gut auf dich aufpassen. Sable ist ein gemeiner Dreckskerl. Gerissen wie ein Fuchs. Er wird die Blaue Stille mit niemandem teilen, schon gar nicht mit einem Maulwurf. Er
hasst
Maulwürfe.«
Aria stand auf. »Woher willst du das wissen? Sind das etwa auch Gerüchte, die von verzweifelten Menschen verbreitet werden?«
Wylan trat näher. »Ja. Man erzählt sich, dass das auf die Einheit zurückgeht. Sables Vorfahren gehörten zu den Auserwählten. Sie sollten in einer der Biosphären unterkommen, wurden aber hinters Licht geführt und dann doch nicht hineingelassen.«
In der Schule hatte Aria alles über die Geschichte der Einheit gelernt – die Zeit nach der gewaltigen Sonneneruption, die die schützende Magnetosphäre der Erde zerstört und Äther über den gesamten Globus verteilt hatte. Die Verwüstung der ersten Jahre war katastrophal gewesen. Wieder und wieder hatte sich das Magnetfeld der Erde umgepolt. Die Welt war von gewaltigen Feuern, Fluten, Ausschreitungen und Seuchen heimgesucht worden. Die Regierungen hatten alles darangesetzt, möglichst schnell Biosphären zu errichten, als die Ätherstürme immer heftiger wurden und fast ununterbrochen tobten. Bei ihrem ersten Auftreten hatten die Wissenschaftler noch keinen Namen für diese fremde Atmosphäre gehabt, weil sie sich jeder wissenschaftlichen Erklärung entzog – ein elektromagnetisches Feld unbekannter chemischer Zusammensetzung, das sich verhielt und aussah wie Wasser und mit einer nie da gewesenen Gewalt zuschlug. Schließlich nannte man sie
Äther
– ein Wort, mit dem die Philosophen der Antike ein ähnliches Element bezeichnet hatten.
Aria hatte Filmberichte über Familien gesehen, die lächelnd durch Biosphären wie Reverie spaziert und ihre neue Heimat bewundert hatten. Sie hatte die Begeisterung in ihren Gesichtern bemerkt, als diese Menschen zum ersten Mal ein Smarteye aufgesetzt und die Welten erlebt hatten. Aber über das, was sich draußen ereignete, hatte Aria keine einzige Reportage zu sehen bekommen. Bis vor wenigen Monaten war der Begriff
Äther
für sie tatsächlich so fremd gewesen wie die Welt jenseits der sicheren Mauern von Reverie.
»Willst du damit sagen, dass Sable die Siedler wegen einer Geschichte hasst, die vor dreihundert Jahren passiert ist?«, hakte sie nach. »Die Biosphären konnten nicht alle aufnehmen; dafür war nicht genug Platz. Die Lotterie war die einzige Möglichkeit, eine faire Auswahl zu treffen.«
Wylan schnaubte verächtlich. »Es war nicht fair. Man hat die Leute einfach sterben lassen, Maulwurf. Glaubst du wirklich an Fairness, wenn die Welt zu Ende geht?«
Aria zögerte. Inzwischen war sie oft genug Zeugin des Überlebensinstinkts geworden und hatte ihn auch selbst erfahren. Eine Kraft, die sie zum Töten angetrieben hatte – etwas, was sie für ganz und gar unvorstellbar gehalten hatte. Sie erinnerte sich daran, wie Hess sie aus der Biosphäre verbannt und ihren Tod in Kauf genommen hatte, um seinen Sohn Soren zu schützen. Sie konnte sich vorstellen, dass Fairness in der Zeit der Einheit nicht viel gegolten hatte. Was passiert war, war nicht fair gewesen, aber trotzdem glaubte sie daran, dass es sich lohnte, für Fairness und Gerechtigkeit zu kämpfen.
»Bist du hier, um uns auf die Nerven zu gehen, Wylan?«, fragte Molly.
Langsam fuhr Wylan sich mit der Zunge über die Lippen. »Ich wollte den Maulwurf nur warnen …«
»Danke«, unterbrach ihn Aria. »Ich werde mich bemühen, Sable nicht auf seine Ur-Ur-Ur-Urgroßeltern anzusprechen.«
Wylan verschwand mit einem dreckigen Grinsen im Gesicht.
Molly streichelte der Stute wieder über die weiße Blesse. »Ich mag sie … meine Butter. Du auch?«
Am späten Nachmittag ging Aria zu Perrys Haus, weil sie vor der Tätowierungszeremonie noch ein paar Minuten allein sein wollte. Vales Zimmer, in dem sie die erste Nacht verbracht hatte, war wesentlich ordentlicher und sauberer als der Rest des Hauses. Am Fußende des Bettes lag eine zusammengefaltete, rote Decke, doch außer einer Truhe und einer Kommode enthielt der Raum keine weiteren Möbel. Sie war Perrys Bruder nie begegnet, spürte aber seine Präsenz in diesem Zimmer. Die starke Ausstrahlung, die er ihrer Vorstellung nach besessen hatte, bereitete ihr Unbehagen.
Sie nahm Perrys Schildkrötenfalken von der Fensterbank im anderen Zimmer, stellte ihn auf ihren Nachttisch und lächelte über die schlichte
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