Getrieben - Durch ewige Nacht
wirkte inzwischen verknittert und rutschte ihr von der Schulter. Sie hatte ihre Haare gelöst, machte aber einen stärkeren und entspannteren Eindruck als beim Abendessen.
Aria verschränkte die Arme vor der Brust. Neben dem Bett flackerte eine Lampe, die den kühlen, engen Raum erleuchtete. »Er ist nicht hier, wie du siehst.«
»Bitte richte ihm etwas von mir aus …«
»Ich werde ihm gar nichts von dir ausrichten.«
Liv grinste süffisant. »Wer bist du eigentlich?«
»Eine Freundin von Roar und Perry.« Aria biss sich auf die Lippe, kaum dass sie die Worte ausgesprochen hatte.
Freundin
schien so ein schwaches, unpassendes Wort. Sie war viel mehr als das – für beide.
Ein Lächeln breitete sich auf Livs Gesicht aus. »Ah … Du bist eine Freundin von Perry. Das hätte ich mir denken können. Du siehst aus wie jemand, mit dem mein Bruder
befreundet
sein möchte.«
»Es wird Zeit, dass du gehst.«
Liv lachte kurz auf, machte aber keine Anstalten, das Zimmer zu verlassen. »Überrascht dich das? Du kannst doch nicht ernsthaft glauben, dass du das einzige Mädchen bist, das in ihn verknallt ist.«
Aria spürte, wie sich ihr Gesicht vor Zorn rötete. »Ich weiß, dass ich das einzige Mädchen bin, dem er hingegeben ist.«
Liv verstummte. Dann trat sie näher und durchbohrte Aria förmlich mit ihrem Blick. Der Striemen von dem Übungskampf war auf ihren geröteten Wangen kaum noch zu sehen. »Wenn du ihm wehtust, bring ich dich um«, sagte sie mit ruhiger, ungerührter Stimme. Es war keine Drohung, sondern eine Mitteilung. Eine Ankündigung.
»Das Gleiche hab ich vorhin auch gedacht.«
»Du weißt
gar nichts
«, schnaubte Liv. »Sag Roar, er muss Rim verlassen. Sofort. Noch vor der Hochzeit. Er kann nicht hierbleiben.«
»Wie kannst du so tun, als wäre er dir
lästig
?«, fauchte Aria angewidert und dachte an all die Nächte, in denen sie mit Roar über Liv gesprochen und sich angehört hatte, wie wunderbar sie sei. Dieses Mädchen war schrecklich. Egoistisch und gemein. »
Du
bist weggelaufen!
Du
hast ihn verlassen. Er hat ein ganzes Jahr lang nach dir gesucht.«
Liv deutete mit einer ausholenden Handbewegung auf den Raum um sie herum. »Glaubst du, ich habe mir das hier ausgesucht? Glaubst du, ich bin gern hier? Mein Bruder hat mich
verkauft
! Er hat mir alles genommen, was ich wollte.« Sie warf einen Blick auf die Tür und trat dann näher. »Willst du wissen, was ich das ganze letzte Jahr über getan habe? Ich habe
jeden Tag
darum gekämpft, Roar zu vergessen. Ich habe jedes Lächeln ausgeblendet, jeden Kuss, jede perfekte dumme Bemerkung, mit der er mich zum Lachen gebracht hat. Ich habe das
alles
tief in mir vergraben. Es hat ein Jahr gedauert, nicht mehr an ihn zu denken. Ein Jahr, ihn nicht mehr wie verrückt zu vermissen und hierherkommen und Sable gegenübertreten zu können. Roar ruiniert alles, wenn er hierbleibt«, fuhr Liv fort. »Ich bin nicht stark genug. Wie kann ich ihn vergessen, wenn ich ihn ständig sehe? Wie soll ich es schaffen, Sable zu heiraten, wenn ich an nichts anderes denken kann als an
Roar
?« Tränen schwammen in ihren Augen, und sie atmete schnell und stoßweise.
Aber Aria wollte kein Mitleid für sie empfinden. Dazu hatte Liv Roar zu sehr verletzt. »Er ist hier, um dich nach Hause zu bringen, Liv. Es muss einen Weg für dich geben, zu den Tiden zurückzukehren.«
»Nach Hause?«, fragte Liv und lächelte matt. »Perry kann die Mitgift nicht zurückzahlen. Und ich kann nicht länger davonlaufen. Ich weiß, wie es da draußen ist. Ich weiß, dass die Tiden Hilfe brauchen, und Sable kann sie ihnen geben. Er wird auch
weiterhin
helfen, wenn wir verheiratet sind. Wie kann ich das aufgeben? Wie kann ich weggehen, wenn das bedeutet, dass meine Familie hungern muss – oder
sterben
?«
Darauf hatte Aria keine Antwort. Sie seufzte und setzte sich auf das Bett, als eine Woge der Erschöpfung sie erfasste. Ätherlicht blitzte auf und drang durch das kleine Fenster, sodass das Zimmer in blaues Licht gehüllt wurde.
Livs Problem kam ihr unangenehm vertraut vor. Aria war so darauf konzentriert gewesen, für Hess die Blaue Stille zu finden und Talon zu befreien, dass sie nicht gewagt hatte, darüber nachzudenken, was
danach
passieren würde. Würde es für sie und Perry jemals eine Möglichkeit geben, zusammenzukommen? Die Tiden hatten sie abgelehnt, und Reverie stellte auch keine Alternative dar. Alles und jeder waren gegen sie.
Aria schob diese Gedanken beiseite. Es nützte
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