Getrieben - Durch ewige Nacht
Stunde zuvor angezogen hatte, trommelte sie unaufhörlich mit den Fingern auf ihre Oberschenkel.
»Halt still, sonst steche ich dich.« Die Schneiderin hatte mehrere Nadeln zwischen die Lippen geklemmt und klang gereizt.
»Das kann mich nicht schrecken, Rena. Du hast mich schon mindestens zehn Mal gestochen.«
»Weil du wie ein Fisch zappelst. Halt
still
!«
Liv verdrehte die Augen. »Sobald du fertig bist, werfe ich dich in den Fluss.«
»Wenn ich mich nicht zuerst hineinwerfe, Kleines«, schnaubte Rena.
Liv scherzte, aber sie wirkte mit jeder Sekunde blasser. Aria konnte es ihr nicht verdenken. In zwei Tagen würde sie heiraten und für immer mit jemandem verbunden sein, den sie nicht liebte. Mit
Sable
.
Sorgenvoll schaute Aria zur Tür. Seit er am Abend zuvor überstürzt das Esszimmer verlassen hatte, war Roar noch nicht wieder aufgetaucht.
Aus dem Gang draußen drangen Stimmen durch die dicke Holztür. Inzwischen kannte Aria sich in den verschachtelten Korridoren schon besser aus. Sables Zimmer lag nicht weit entfernt. Jetzt, da er wusste, dass sie die Blaue Stille suchte, würde es noch schwerer werden, sich davonzustehlen und etwas in Erfahrung zu bringen. Aber sie wollte trotzdem später einen Versuch wagen.
»Was du letzte Nacht über den widerspenstigen Vogel gesagt hast, sehe ich genauso«, meinte Liv plötzlich.
Aria setzte sich auf. »Wirklich?«
Liv nickte. »Er lässt sich niemals zähmen … Glaubst du, es ist bereits zu spät?«
Zu spät, um Roar zu sagen, dass sie ihn liebte? Fast hätte Aria vor Freude laut gelacht. »Nein, ich glaube nicht, dass es dafür jemals zu spät sein kann.« Während der nächsten zehn Minuten, die die Schneiderin noch zum Abstecken benötigte, war Aria genauso zappelig wie Liv und konnte das Lächeln um ihren Mund nur mühsam unterdrücken. Als Rena schließlich ging und die beiden endlich allein waren, sprang Aria vom Bett auf und stürmte zu Liv. »Bist du dir sicher?«
»Ja. Er ist das Einzige, dessen ich mir immer sicher gewesen bin. Hilf mir, dieses Ding auszuziehen. Ich muss ihn finden.« In Sekundenschnelle hatte sie das Kleid abgestreift und abgenutzte, braune Lederhosen, Stiefel und ein weißes Hemd mit langen Ärmeln angezogen. Dann drehte sie ihr Haar zu einem Knoten und zog sich die Lederscheide mit dem Halbschwert über die Schulter.
Sie schauten zuerst in Roars und dann in Arias Schlafzimmer nach, fanden aber beide leer vor. Diskret fragte Liv ein paar der Wachposten nach Roar. Aber niemand hatte ihn gesehen.
»Was meinst du? Wo könnte er stecken?«, fragte Aria, während sie Liv durch die Korridore folgte.
Liv lächelte. »Ich habe da so eine Ahnung.«
Aria spitzte automatisch die Ohren, als sie ins Freie traten und auf die schattigen Gassen der Stadt zusteuerten. Während ihrer Suche nach Roar konnte sie sich zugleich ein wenig umhören.
Die Menschen auf den Straßen erkannten Liv und nickten ihr zu. Wegen ihrer Größe war sie schwer zu übersehen. In ein paar Tagen würde sie eine mächtige Frau sein – eine Anführerin an der Seite von Sable –, und dafür bewunderten sie sie. Aria fragte sich, wie sich das wohl anfühlen mochte. Sie wünschte sich, an Perrys Seite zu stehen, aus eigener Kraft stark zu sein und als die akzeptiert zu werden, die sie war.
Sämtliche Gespräche in der Stadt schienen sich um den Sturm der letzten Nacht zu drehen. Die Felder südlich von Rim brannten noch immer, und die Bewohner diskutierten darüber, welche Maßnahmen Sable wohl ergreifen würde. Aria stellte sich die gleiche Frage. Wenn sein Land brannte, wenn er wie alle anderen unter dem Äther litt, warum war Sable dann noch nicht zur Blauen Stille aufgebrochen? Worauf wartete er?
»Wie groß ist der Stamm der Hörner?«, wollte sie von Liv wissen, während sie sich einen Weg durch die Menschenmenge auf dem Marktplatz bahnten.
»Ein paar Tausend in der Stadt und noch mehr in den Randgebieten. Außerdem hat Sable noch ein paar Kolonien. Er will von allem das Beste und das Meiste. Deshalb mag er auch die Siedler nicht.« Sie warf Aria einen Blick zu und zuckte entschuldigend die Schultern. »Er kann eure Städte nicht kaufen, und das ärgert ihn. Alles, was er nicht haben kann, verachtet er.«
Das ergab mehr Sinn als Wylans Theorie von einem jahrhundertealten Groll.
Arias Gedanken überschlugen sich, als sie Liv folgte. Wie wollte Sable die vielen Tausend Menschen seines Stammes in die Blaue Stille umsiedeln? Dazu noch die Vorräte, die sie
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