Getrieben: Thriller (German Edition)
in Erinnerung an die entsetzlichen Erlebnisse versunken blind aus dem Wagenfenster. Dann ging er unvermittelt zum Gegenangriff über. »Mein Amerikanisch gefällt Ihnen also? Vielen Dank für das Kompliment. Wir haben es aus den Kinofilmen gelernt.«
»Sie haben im Gefangenenlager Kinofilme gesehen?« Jonathan war aufrichtig überrascht.
»Anfangs nicht. Nein, am Anfang durften wir nicht ins Kino. Zuerst hat man uns draußen in Hundekäfige gesperrt. In der ersten Zeit gab es nur Verhöre, keine Filme, aber dann, als die CIA davon überzeugt war, dass wir ihnen alles erzählt hatten, was wir wussten, durften wir erst Bücher lesen und ein paar Monate später auch Filme sehen. Zum Zeitpunkt meiner Freilassung gab es über siebentausend Bücher und vierhundert Filme in der Bibliothek.«
»Was für Filme haben Sie gesehen?«
»Vor allem Kriegsfilme. Apocalypse Now. Platoon. Patton. Alles ziemlich gute Filme. Aber mein Lieblingsfilm war ein Musical.«
»Ein Musical?«
»Finden Sie das lustig?«
»Nein.«
» On the Town mit Gene Kelly. Kennen Sie das? ›The Bronx is up and the Battery down‹.« Haq summte ein Stück von der Melodie. »Das ist für mich der Inbegriff von Amerika. Drei Soldaten, die fröhlich singen und tanzen, während der Rest der Welt von ihrem Land unterdrückt wird. Gedankenlose Tyrannei. Ich habe mir geschworen, wenn ich jemals nach Amerika komme, muss ich unbedingt New York besuchen. Waren Sie schon mal dort?«
»Ja, die Stadt ist wirklich beeindruckend.«
»Sechs Jahre lang war ich in Gefangenschaft. Eines Tages haben Sie entschieden, dass ich gehen kann.«
»Weshalb?«, wollte Jonathan wissen.
»Ich habe sie belogen«, sagte Haq, und seine tiefschwarzen, mit Kajal umrandeten Augen bohrten sich in Jonathans. »Man muss nur selbst fest genug an seine Lügen glauben, egal, was andere einem antun.«
Der Toyota holperte durch eine Kurve. Dahinter wurde es flacher, und der Wagen beschleunigte mit lautem Dröhnen. Sie befanden sich mitten auf dem Berg, umgeben von fast senkrechten Felswänden, die bis in den Himmel zu ragen schienen.
»Erzählen Sie mir von Ihrem Vater«, sagte Jonathan. »Wie alt ist er?«
»Um die siebzig. Er hat starke Schmerzen in der Magengegend und hat seit einer Woche nicht mehr gegessen.«
»Wann haben die Schmerzen angefangen?«
»Vor einigen Monaten«, antwortete Haq, »aber richtig schlimm ist es erst seit einer Woche.«
»Ist er kürzlich geschlagen oder verletzt worden?«
»Wir sind Krieger. Aber außer dem Üblichen ist nichts Besonderes vorgefallen.«
»Spricht Ihr Vater Englisch?«, wollte Jonathan wissen.
»Er hält mich schon für einen Verräter, wenn ich nur ›Hello‹ sage«, erwiderte Haq und lachte unvermittelt.
Der Fahrer fiel in das Gelächter ein, und Haq verstummte.
Jonathan stellte noch ein paar Fragen, doch Haqs Antworten waren einsilbig. Er schien das Interesse an der Unterhaltung verloren zu haben. Nachdem er seinem Fahrer barsch ein paar Befehle erteilt hatte, beugte er sich plötzlich ohne Vorwarnung über Jonathan und versetzte dem Fahrer einen Hieb auf den Kopf. Jonathan war klug genug, sich nicht einzumischen. Er war schon öfter Zeuge einer grundlos gewalttätigen Auseinandersetzung geworden und vermutete, dass Haq seinen Fahrer gewarnt hatte, nichts von der Unterhaltung im Wagen weiterzuerzählen.
Die schroffen Felswände wichen zurück und gaben den Blick auf ein schmales Plateau frei. Etwa hundert Meter vor ihnen parkten einige Geländewagen unter einem aufgespannten Tarnnetz. Eine Gruppe Männer rannte ihnen entgegen und rief: »Allahu akhbar.« Allah ist groß. Dieser Gruß war für die Afghanen Ausdruck für alles: Sieg und Niederlage, Freude und Trauer.
Der Pick-up hielt an. Haq kletterte heraus. Jonathan folgte ihm und fragte: »Wo ist Hamid?« Haq kratzte sich mit einem langen Fingernagel an der Wange und schien sein zuvor gegebenes Versprechen noch einmal zu überdenken. Schließlich ging er zum letzten Pick-up des Konvois und zog Hamid unsanft von der Ladefläche. »Hier ist Ihr Assistent«, sagte er und stieß Hamid zu Boden. »Ein Hazara. Ein Schwächling.«
Jonathan half Hamid auf. »Bist du okay?«
Hamid klopfte sich den Staub von der Hose. »Danke, dass du mich nicht vergessen hast.«
»Keine Ursache«, sagte Jonathan. »Schließlich war ich es, der dich erst in diese Lage gebracht hat.« Haq entfernte sich ein paar Schritte von ihnen, und Hamid kramte in seiner Tasche nach dem Handy.
»Steck das Ding
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