Getrieben: Thriller (German Edition)
weg«, sagte Jonathan. »Wenn Haq dich damit erwischt, tötet er dich.«
»Kein Empfang«, schimpfte Hamid und drückte verärgert auf ein paar Tasten. »Scheißding.«
»Was hast du denn erwartet? Und jetzt steck das blöde Ding endlich wieder ein.« Hamid stopfte das Handy zurück in die Hosentasche und warf kopfschüttelnd einen Blick zum Himmel.
Unter dem Tarnnetz drängten sich etwa ein Dutzend Männer. Einige von ihnen kamen zu Jonathan herüber, um ihn anzustarren oder sogar sein Hemd zu berühren, als wäre er eine Art Talisman. »Woher kommen diese Männer?«, wunderte sich Jonathan.
»Von dort«, sagte Hamid und zeigte auf ein großes Loch in einer der Felswände mit einer behelfsmäßig gezimmerten Tür aus alten Holzdielen. »Wir sind in Tora Bora. Hier gibt es unzählige Höhlen.«
Jonathan blickte sich um. Durch das Netz über ihnen konnte man zwischen den gewaltigen Felsen ein Stück Himmel erkennen. Aus der Luft unterschied sich dieses Plateau wohl kaum von den anderen zahllosen unzugänglichen Schluchten des Bergmassivs. Jonathan spürte einen Kloß im Hals. Sie hier zu finden war nahezu unmöglich.
Sultan Haq bahnte sich einen Weg durch die Gruppe der Männer. »Mein Vater«, sagte er und winkte Jonathan und Hamid. »Wenn Sie so freundlich wären, mir zu folgen.«
Der Warlord drängelte sich zur Höhle vor und zog den Kopf ein, als er durch die Tür trat. Jonathan folgte Haq dicht auf den Fersen. Der Medizinsack auf seiner Schulter fühlte sich schwerer an als sonst. In der Höhle empfing sie düsteres Dämmerlicht. Jonathan blieb einen Moment stehen, damit seine Augen sich an die Dunkelheit gewöhnen konnten. Doch die Dunkelheit währte nicht lange. Sie befanden sich in einer Art Vorraum mit zwei schweren Vorhängen. Haq zog die Vorhänge einen Spalt auseinander und wies ihnen den Weg in einen schwach beleuchteten Raum von der Größe einer Schulaula. »Hier entlang.«
Es war offensichtlich, dass die Höhle mit viel Aufwand bewohnbar gemacht worden war. Die Wände waren geglättet, die Decke befand sich in fünf Meter Höhe. Irgendwo musste es auch einen Generator geben, denn an der Felsdecke waren Glühbirnen befestigt worden. In der Höhle war es bitterkalt. An den Wänden lagerten ordentlich aufgetürmte Vorratsstapel: Lebensmittel in der einen, Munition in einer anderen Ecke. An einigen Stellen lagen in Wolldecken gewickelte Männer auf dem nackten Boden und schliefen.
Haq durchquerte den Raum und betrat einen schmalen Durchgang. Hier waren die Wände unbearbeitet und die Decke niedrig. An mehreren Stellen ragten scharfkantige Felsbrocken heraus. Alle paar Meter öffnete sich zu beiden Seiten die Wand und gab den Blick in einen weiteren Raum frei. Im ersten Raum lagerten Reissäcke, auf denen in Großbuchstaben NATO geschrieben stand. Im nächsten lagen mehrere Männer schlafend auf dem staubigen Boden. Jonathan bemerkte, dass einer von ihnen dreckverkrustete Springerstiefel trug. Er kniff die Augen zusammen und entdeckte im Schummerlicht nicht einen, sondern sogar drei Soldaten, die dicht an dicht nebeneinanderlagen. Die amerikanische Flagge auf ihren Uniformen war nicht zu übersehen. In einer Ecke hockte ein Wärter mit einem AK-47 vor den Knien.
Haq warf einen Blick über die Schulter. »Gefangene«, sagte er. »Das geht Sie nichts an.«
Hamid schubste Jonathan unsanft von hinten. Jonathan wandte sich um, um zu sehen, ob alles in Ordnung war. »Los, weiter«, sagte Hamid in einem ungewohnt aggressiven Ton.
Mit langen Schritten lief Jonathan weiter, um Haq nicht aus den Augen zu verlieren.
In der dritten Kammer lag Haqs Vater auf einem Bett mit einer farbenfrohen Decke. Laut Haq war er um die siebzig, aber in seinem schwarzen Bart war noch kein einziges graues Haar zu sehen, und seine Augen sprühten vor Lebendigkeit. Nur die dünne, bleiche Gesichtshaut verriet sein wahres Alter. Sultan Haq fiel am Bett des Vaters auf die Knie, und es war leicht zu erraten, dass er den alten Mann anflehte, sich von dem amerikanischen Arzt behandeln zu lassen.
»Das ist Abdul Haq«, flüsterte Hamid von hinten. »Zur Zeit der Talibanregierung war er Verteidigungsminister. Während des Krieges gelang es ihm, achthundert eigene Soldaten gefangen zu nehmen, die die Fronten gewechselt hatten und nun für die Nordallianz kämpften. Er statuierte ein Exempel an ihnen und ließ jedem Einzelnen den Kopf abschlagen. Heute ist er der oberste Kommandeur der Talibantruppen im Norden und der Chef ihres
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