Gevatter Tod
Schicht mit einigermaßen stabiler Kruste gebildet. Man konnte über sie hinweggehen, wenn man achtgab. Wenn man nicht aufpaßte, sank man knietief in geballten Tharga -Dung. Und wenn man anschließend die grünen dampfenden grünen Stiefel aus der klebrigen Masse zog, ertönte ein charakteristisches Brodeln, das ebenso deutlich den Frühling ankündigte wie Vogelgezwitscher und das Summen von Bienen.
Ein solches Geräusch ertönte nun. Mort sah aus einem Reflex heraus auf seine Schuhe.
Ysabell weinte. Es war kein damenhaftes leises Schluchzen; es klang eher so, als ersticke jemand in kompaktem Tharga- Kot . Sie schnappte nach Luft, keuchte krampfhaft, ruderte mit den Armen und lief rot an. Irgendwo tief in ihr blubberte es, und Mort stellte sich vor, wie dicke Blasen aus dem Kegel eines Meeresvulkans stiegen und darum wetteten, wer als erster die Wasseroberfläche erreichte. Er hörte ein gedämpftes, stoßweises Schrillen, das sich wie unter Druck aus Ysabells Kehle löste und in stumpfsinnigem Elend gereift war.
»Äh«, sagte Mort.
Das Mädchen erzitterte so heftig wie ein Wasserbett, das von den ersten Stoßwellen eines Erdbebens erfaßt wurde. Es holte ein Taschentuch hervor, das unter diesen Umständen ebensowenig nützte wie ein Papierhut während eines Orkans. Es versuchte, verständliche Worte zu formulieren, die jedoch nur aus Konsonanten bestanden. Rhythmisches Quieken ersetzte die Vokale.
»Wie bitte?« fragte Mort.
»Ich sagte: Für wie alt hältst du mich?«
»Fünfzehn?« erwiderte er vorsichtig.
»Ich bin sechzehn«, heulte Ysabell. »Und weißt du, wie lange ich schon sechzehn bin?«
»Ich fürchte, ich verstehe dich nicht ganz.«
»Das überrascht mich nicht. Niemand versteht mich.« Sie putzte sich die Nase und hielt die Hände ruhig genug, um das Taschentuch wieder im Ärmel zu verstauen.
»Du darfst ab und zu in die Welt der Sterblichen zurückkehren«, fuhr sie fort. »Du bist noch nicht lange genug hier, um es bemerkt zu haben. Wenn du's genau wissen willst: An diesem Ort steht die Zeit still. Oh, irgend etwas verstreicht, aber es handelt sich nicht um echte Zeit. Echte Zeit kann mein Vater nicht schaffen.«
»Ach.«
Ysabell schwieg einige Sekunden lang, und als sie erneut sprach, erklang die dünne, erzwungen ruhige und tapfere Stimme eines Mädchens, das sich mit großer Mühe zusammengerissen hatte – und jederzeit noch einmal die Beherrschung verlieren konnte.
»Schon seit fünfunddreißig Jahren bin ich sechzehn.«
»Ach?«
»Schon im ersten Jahr war es schlimm genug.«
Mort erinnerte sich an die letzten Wochen seines Lebens und nickte voller Mitgefühl.
»Liest du deshalb die ganzen Bücher?« fragte er.
Ysabell senkte den Kopf und strich mit der einen Sandale verlegen über leise knirschenden Kies.
»Sie sind sehr romantisch«, antwortete sie. »Einige enthalten wirklich mitreißende Geschichten. Ich denke da nur an die junge Frau, die Gift trank, als ihr junger Gatte starb. An die zweite, die von einer hohen Klippe sprang, weil ihr Vater darauf bestand, sie solle einen Greis heiraten. An die dritte, die ertrank, weil…«
Mort hörte mit wachsendem Erstaunen zu. Nach Ysabells Schilderungen zu urteilen, war es mehr als nur bemerkenswert, wenn eine Bewohnerin der Scheibenwelt ihre Pubertät lange genug überlebte, um ein Paar Strümpfe abzutragen.
»… und dann dachte sie, er sei tot, und sie beging Selbstmord, und dann wachte er auf und brachte sich wirklich um, und dann gab es da das Mädchen…«
Der gesunde Menschenverstand darf vermuten, daß wenigstens einige Frauen ihr drittes Lebensjahrzehnt erreichten, ohne sich vorher aus Liebeskummer umzubringen, doch Vernunft und Realität bekamen in jenen Dramen nicht einmal eine Nebenrolle. 5 Mort wußte bereits, daß sich Verliebte gleichzeitig heiß und kalt fühlten, manchmal auch schwindelig und schwach, doch bisher war ihm entgangen, daß Dummheit ebenfalls zu den Begleiterscheinungen gehörte.
»… schwamm jeden Abend durch den Fluß, doch eines Nachts wütete ein Sturm, und als er nicht kam, geriet sie ganz außer sich und…«
Mort hielt es instinktiv für möglich, daß sich manche Paare zum Beispiel beim Dorftanz kennenlernten, ineinander verliebten, ein Jahr oder zwei zusammenlebten, sich nach einigen Streitereien langsam aneinander gewöhnten und heirateten, ohne vorher Selbstmord zu begehen.
Nach einer Weile merkte er, daß die Litanei unglücklicher Liebe endete.
»Oh«, machte er und überlegte.
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