Gevatter Tod
»Gibt es denn überhaupt keine jungen Leute, die ohne große Mühen zueinander finden und nicht sofort auf dem Friedhof enden?«
»Liebe bedeutet Leid«, behauptete Ysabell. »Sie muß voller finsterer Leidenschaft sein.«
»Tatsächlich?«
»Ja. Kummer ist unbedingt erforderlich. Ebenso eine gehörige Portion Seelenschmerz.«
Ysabell runzelte plötzlich die Stirn und glaubte, sich an etwas zu erinnern.
»Hast du eben eine Geschichte erwähnt, die angeblich verrückt spielt?« fragte sie und rechnete vielleicht damit, daß er ihr den Namens-Titel einer interessanten Biographie nannte.
Mort dachte kurz nach. »Nein«, sagte er.
»Ich fürchte, ich habe nicht richtig zugehört.«
»Tut weiter nichts zur Sache.«
Schweigend schlenderten sie zum Haus.
Als Mort das Büro betrat, stellte er fest, daß Tod vier Lebensuhren auf seinem Schreibtisch zurückgelassen hatte. Das große lederne Buch lag geschlossen und zugebunden auf einem Pult.
Ein Zettel ragte unter den gläsernen Behältern hervor.
Mort rechnete damit, daß sein Lehrmeister entweder gotische Schriftzeichen oder Grabstein-Blockbuchstaben verwendete, und aus diesem Grund war er ein wenig enttäuscht. Tod hatte ein klassisches Werk über Graphologie gelesen und einen handschriftlichen Stil gewählt, der auf eine ausgeglichene, in sich ruhende Persönlichkeit hinwies.
Die Nachricht lautete:
Ich bin Fyschen gegangen. Hoite nacht schteht folgendes auf dem Arbaitsplahn: aine Hinrichtunk in Pseudopolis, ain natührliches Ableben in Krull, ain fataler Sturz in den Ritzzenbärgen uhnd jemand in Ell-Kinte, där an Fiehber stirbet. Den Räst des Tages hast du frai.
Mort stellte sich die Geschichte als eine dicke lange Stahltrosse vor, die plötzlich riß und mit zerstörerischer Wucht durch die Realität peitschte.
Die Geschichte verhält sich nicht auf eine solche Weise. Sie fasert ganz langsam aus, wie ein alter Pullover. Ein Pullover, der mehrmals geflickt und gestopft wurde, dem man Teile hinzufügte und abnahm, um ihn anderen Personen anzupassen, der in einem Kasten unter dem Spülbecken der Zensur verstaut wurde, um später zu Staublappen der Propaganda zerrissen zu werden. Irgendwann nimmt er immer wieder die alte Form an. Die Geschichte neigt dazu, alle jene Leute zu verändern, die sie ändern wollen. Die Geschichte hat ständig ein As im ausgefransten Ärmel. Sie ist alt genug, um alle Tricks zu kennen.
Folgendes geschah:
Morts fehlerhafter Sensenhieb hatte die Historie in zwei verschiedene Realitäten zerschnitten. In der Stadt Sto Lat herrschte nach wie vor Prinzessin Keli, wenn auch nicht ohne gewisse Probleme. Sie nahm die Hilfe des Königlichen Wiedererkenners in Anspruch, der auf die Gehaltsliste des Hofes gesetzt und beauftragt wurde, die vergeßlichen Untertanen an Kelis Existenz zu erinnern. Doch in den anderen Regionen der Scheibenwelt – jenseits der Ebene, in den Spitzhornbergen, am Runden Meer und bis hin zum Rand – blieb die traditionelle Wirklichkeit stabil. Dort war die Prinzessin eindeutig tot, und der Herzog saß auf dem Thron. Dort lief die Welt ganz nach Plan, was auch immer das bedeuten mochte.
Was alles noch weitaus interessanter machte: Beide Realitäten waren real.
Derzeit trennten den historischen Ereignishorizont noch etwa zwanzig Meilen von der Stadt, und niemand bemerkte ihn. Als Grund mag hier der geringe Unterschied zwischen dem… Nun, vielleicht ist es angebracht, in diesem Zusammenhang von zwei verschiedenen historischen Druckpotentialen zu sprechen. Die Differenz zwischen ihnen war noch nicht sehr groß, wuchs jedoch langsam an. Draußen in der Ebene mit den weiten Kohlfeldern schimmerte es in der Luft, und aufmerksame Ohren hätten ein leises Zischen vernommen, wie von brutzelnden Heuschrecken.
Menschen verändern die Geschichte ebensowenig wie Vögel den Himmel – sie hinterlassen nur flüchtige Muster. Zentimeter um Zentimeter schob sich die wirkliche Wirklichkeit näher an Sto Lat heran, so unaufhaltsam wie ein Gletscher und weitaus kälter.
Mort wurde als erster darauf aufmerksam.
Ein langer Nachmittag lag hinter ihm. Der Bergsteiger hatte sich bis zum letzten Augenblick an einem kleinen abbröckelnden Vorsprung festgehalten, und der zum Tode Verurteilte bezeichnete Mort als Lakaien des monarchistischen Staates. Nur die alte Dame im Zimmer 103 nahm den Lohn ihres Lebens dankbar hin, verabschiedete sich mit einem letzten verschmitzten Blick von den trauernden Verwandten, sah den Jungen mit
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