Gevatter Tod
erstenmal: eine ganz spezielle Art von Sehnsucht, die keinem Ort galt, sondern einer Geisteshaltung, einer inneren Einstellung. Er wollte plötzlich ein völlig normaler Mensch sein, der sich nur um einfache, weltliche Dinge Sorgen zu machen brauchte, zum Beispiel um Geld, Krankheiten und andere Leute…
»Ich genehmige mir ein Gläschen«, überlegte Mort laut. »Vielleicht fühle ich mich dann besser.«
An der einen Seite des Gebäudes fand er einen offenen Stall und führte Binky in eine warme, nach Pferden riechende Dunkelheit, die drei andere Tiere enthielt. Während er den Futtersack löste, fragte er sich stumm, ob Tods Roß in Hinsicht auf seine Artgenossen ähnlich empfand. Im Vergleich mit den anderen Pferden, die ein weitaus weniger übernatürliches Leben führten und Binky wachsam beobachteten, wirkte der Hengst ziemlich beeindruckend. Er war im wahrsten Sinne des Wortes echt – die Blasen an Morts Schaufelhand räumten alle Zweifel aus –, doch jetzt sah er echter aus als jemals zuvor. Er schien massiver zu sein. Seine Pferdeaura verdichtete sich. Binky wuchs. Wurde größer als das Leben selbst.
Mort begann damit, eine wichtige Schlußfolgerung zu ziehen, und in diesem Zusammenhang ist es wirklich bedauerlich, daß er im entscheidenden Augenblick abgelenkt wurde. Vom Schild über der Herbergstür. Dem entsprechenden Künstler mangelte es zwar an Talent, aber trotzdem sah Mort auf den ersten Blick, wem die bunte Darstellung ähneln sollte. Er erkannte das trotzig vorgeschobene Kinn Kelis wieder, betrachtete ein schmales, von feuerrotem Haar umrahmtes Gesicht. Darunter stand in verschnörkelten Lettern: ZUM KOFF DÄR KÖHNIGIN.
Mort seufzte und öffnete die Tür.
Von einem Augenblick zum anderen wurde es still im Schankraum, und wie auf ein geheimes Zeichen hin drehten sich alle Gäste um. Sie starrten den Neuankömmling mit jener Art von bäuerlicher Ehrlichkeit an, die folgende Botschaft übermittelte: Für zwei gut gefüllte Krüge schlagen wir dir mit einem Spaten den Schädel ein und begraben dich bei Vollmond unter einem hohen Komposthaufen.
Nun, es mag durchaus die Mühe wert sein, Mort genauer anzusehen, denn im Verlauf der letzten Kapitel hat er sich ein wenig verändert. Zwar besitzt er noch immer recht viele Ellbogen und Knie, aber sie nehmen nun den ihnen gebührenden Platz ein. Außerdem bewegt er sich nicht mehr so, als wären seine Gelenke mit Gummistreifen verbunden. Früher blinzelte er häufig und erweckte den Eindruck, als falle es ihm schwer, die Umgebung zu erkennen. Jetzt läßt das Leuchten in seinen Augen vermuten, als wisse er bereits zuviel von der Welt. Und damit noch nicht genug. Das Funkeln in seinen Pupillen deutet darauf hin, daß er einen Blick auf Dinge geworfen hat, die gewöhnlichen Leuten für immer verborgen bleiben – oder die sie nur einmal sehen, ganz kurz.
Irgendein Aspekt im Erscheinungsbild des Jungen teilte den Beobachtern stumm mit: He, Leute, wer mich blöd anquatscht, kann ebensogut nach einem Wespennest treten. Hört ihr bereits das zornige Summen?
Anders ausgedrückt: Mort wirkt nicht mehr wie etwas, das eine Katze gefressen und anschließend ausgebrochen hat.
Der Wirt zog die Hand von der Schwarzdornkeule zurück, die unter der Theke lag, und gleichzeitig versuchte er mit nur mäßigem Erfolg, sich ein fröhliches Willkommenslächeln abzuringen.
»N'Abend, Euer Lordschaft«, sagte er. »Was für ein Begehr führt Euch durch die dunkle, kalte Nacht?«
»Wie bitte?« erwiderte Mort und zwinkerte im hellen Licht.
»Er meint, was möchtest du trinken?« knurrte ein kleiner; frettchengesichtiger Mann, der am Kamin saß und Mort so beobachtete wie ein Metzger mehrere Gehege voller Lämmer.
»Hm, ich weiß nicht«, brummte Mort. »Hast du Sternentau?«
»Nie davon gehört, Euer Lordschaft.«
Mort drehte den Kopf und musterte die Anwesenden im flackernden Schein des wärmenden Feuers. Es handelte sich um Leute, die man gemeinhin als Salz der Erde bezeichnete. Mit anderen Worten: Sie waren schlecht für die Gesundheit. Mort sah untersetzte, kräftige und vierschrötige Gestalten, aber er machte sich nicht die Mühe, sie mit seinem eigenen Körperbau zu vergleichen.
»Was trinkt man hier?« fragte er verwirrt.
Der Wirt warf seinen übrigen Gästen einen kurzen Seitenblick zu. Ein interessanter Trick, wenn man berücksichtigte, daß sie direkt vor ihm saßen und standen.
»Nun, Euer Lordschaft, wir mögen zum Beispiel
Weitere Kostenlose Bücher