Gewäsch und Gewimmel - Roman
täuschte ich leider nicht über meine Absicht. Ihn doch nicht! Plötzlich ärgerte er sich über die spielverderberische Schonung. Nicht sehr, nur kurz, aber seine Mundwinkel verrieten es mir. Dann sah er mir lächelnd in die Augen, es tat mir gut, so gut, und sagte: »Die Eisenbahn, Frau Wäns? Ja, ich tippe auf die Bahn. In Alaska alles per Zug und Straßenbahn.«
Gewonnen! Der freundliche Herr Hans hatte mir den Sieg boshaft in die Schuhe geschoben. Meine Strafe: Für mich galten andere Gesetze. Die Jüngsten und die Ältesten, die, die noch nicht oder nicht mehr ganz zurechnungsfähig sind, läßt man siegen. Ich war es, die hier eine rücksichtsvolle Sonderbehandlung erfuhr. Gab es mir einen Stich? Den Nugget immerhin luchste mir Sabine noch in derselben Nacht ab.
Was war da noch beim Rausgehen, als Hans sich verabschiedete und er Iris und Sabine nebeneinanderstehen sah? »Ihr beide mit Euren bezirzenden Blicken«, sagte er, aus seiner Geistesabwesenheit heraus zu ihnen hin. Iris maulte, um ein bißchen ihn, Sabine und sich selbst zu kränken, hinter ihm her: »So hat er für jeden etwas.«
Mir gegenüber aber äußerte er zum Abschied noch Persönlicheres.»Riesige Gletscher, Frau Wäns, aber auch viel, viel Wald!« Ich merkte sofort, wie er es meinte, antwortete jedoch, um zu zeigen, wie verständig ich den Zettel studiert hatte: »Ja, Herr Scheffer« – es gefiel mir so, seinen Namen auszusprechen – »bedeutende Holz- und Papierindustrie.« Ich sah ein winziges Blitzen in seinen Augen, und er beugte sich tief, wie schon einmal, über meine Hand. Ich konnte nicht widerstehen, um mich zu bedanken, um mich noch mehr einzuschmeicheln: »Anada, ein wunderschöner Name!« zu sagen. Da küßte er mich schnell auf den Mund. Ich atmete noch den Geruch seiner Haut ein, als die Frauen schon riefen: »Wir auch! Uns gefällt der Name genauso wie ihr. Wir wollen geküßt werden wie Frau Wäns. Anada, was für ein Klang!« Wieder strahlte er, aber er bezahlte sie nicht. Weil er sich nicht erpressen, weil er sich nicht wiederholen und zum Narren halten lassen wollte? Ich glaube, er vergaß das Küssen einfach.
Ein großer Abend für jeden von uns. Beim Aufräumen, als ich meine Zigarette rauchte, gab sich Sabine einen Ruck und sagte in einem neuartigen Tonfall: »Den Kuß von Hans Scheffer mußt du mit dem Goldstück bezahlen.« Daß mein strenges Mädchen so spät in ihrem Leben doch noch ins Schwärmen geraten ist! Schon hatte sie sich ja auch gefaßt und fuhr streng fort: »Weißt du, daß der Kurs zur Zeit um 1200 Dollar je Feinunze pendelt und immer mehr Leute die Rückkehr zum Goldstandard wünschen? Alle wollen ein neues stabiles Weltwährungssystem, aber mit Gold wird das nicht mehr klappen. Halte ich für ausgeschlossen.«
Die ganze Welt redet mittlerweile über die unendlichen Entfernungen im Kleinen, selbst im Winzigsten. Dort, hier, zwischen den Flügelrändern des kleinen Käfers. Auch über die Distanzen im Atom staunt keiner mehr. Aber ich, ich spüre manchmal die Abstände zwischen den Augenblicken, die wir sonst zu einer Sekunde zusammenziehen. Ich sehe, was für schwarze Tiefen, wasfür Abgründe sich öffnen zwischen eben und jetzt. Das Auseinanderbersten einer einzigen Sekunde, ich kenne es, anders als die, die so leichtfertig mit »Sekundenbruchteilen« bei der Hand sind. Ich fühle, schon halb eingesogen, die Gefahr, in die Seelenwelt zweiter Wesen zu kippen. Eine Strömung, wer weiß schon, wie riskant sie ist? Psst! Ob mich diese Elsa vielleicht verstehen würde? Das fragt mein sechster Sinn.
Wer weiß von der grausigen Kunst, in allem das Vergehen zu wittern und das lebendige Treiben rechts und links von den Straßen als empfindlichen Spuk zu erkennen, der erst durch Schmerz fest wird wie die Chitinpanzer der Käfer am Luftzug? Wer ahnt schon, wie man sich die Dinge einfach ins Nichts denken kann, alles wie verschluckt, von einem zum anderen Moment, Ding, Mensch, Musik, Jammer. Still, um Gottes willen!
Wer kennt die dünne Tonlosigkeit und dagegen die dicke Stille, die jeden Augenblick umschlagen kann in lautes Donnern? Sie äußert sich plötzlich im Tumult, ja, die gewaltige Stille. Und doch schwillt in mir die Fülle der Pflanzen und Blüten mächtig an, jetzt, wo ich sie sehe und ihre Namen sage, unbesorgt um den Morast, und in den Himmel sehe mit sausenden Wolken darinnen, daß ich mich kaum lassen kann und weiß, daß in Wahrheit nichts vergeht. Nur das Glück und Unglück, wie man
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