Gewäsch und Gewimmel - Roman
er hatte mich doch gehört, denn er beugte sich zu mir und küßte mich ein zweites Mal freudeblinkend auf den Mund, so daß ich mich ein wenig an ihm festhalten mußte vor Schwäche. »Sie spricht schon ganz gut Deutsch«, sagte er dann gefaßter, »sie lernt unglaublich schnell.« Ich horchte dem nach. Beunruhigte ihn ihre Geschwindigkeit?
Sie machte wirklich mit großer Fixigkeit Fortschritte. An den paar Wörtern, die sie vom Urgroßvater wußte, von dem hundertjährigen Schlesier, der in Alaska erst im letzten Frühjahr umgefallen war, gestorben auf dem Weg zur Kaffeebar, die er jeden Nachmittag der molligen Wirtin wegen aufsuchte, an denen lag es nicht. Es hing mit ihrer Begierigkeit zusammen. Schon am zweiten Tag in unserem Haus hat sie ihren Zimmerspiegel mit lauter deutschen Vokabeln vollgeklebt. Sich selbst sehen konnte sie darin nicht mehr, nur Fragmente in den Spalten zwischen den Zetteln. Es störte sie nicht. Als ich kurze Zeit darauf entdeckte, daß sie die Papierchen ausgetauscht, nämlich durch solche mit, ich glaube, russischen Wörtern ersetzt hatte, habe ich Herrn Hans nichts davon gesagt. Besäße ich doch bloß nicht diesen verfluchten sechsten Sinn!
Mit meinen Augen ist es jetzt besser geworden, sonst könnte ich nicht den milden Schein auf den Wiesen erkennen, weiße Rücken, Köpfe, Hinterteile, die Pferde blühen wie schimmernde Gewächse daraus hervor, schimmern, meine ich, wie blühende Gewächse aus dem hohen Gras heraus. Das Heidekraut geht unter im Grün, im Schatten faulen die Bänke wegen der Nässe. Das Verwittern tröstet mich auf einmal. Damals, im August, sprenkelten schon erste Birkenblättchen die Wege, und aus demDunklen leuchteten die roten Ebereschenbüschel, am Tag der Ankunft oder einem anderen.
Jetzt aber, kann das denn sein, steht direkt vor mir ein Kinderwagen mit einem schlafenden Säugling darinnen, mutterseelenallein auf weiter Flur im Schutzgebiet. Niemand läßt sich ringsum blicken. Was soll ich anderes machen, als »hallo« zu rufen, leise, damit das kleine, sorglos abgestellte Lebewesen nicht schreit? »Hallo«, flüstere ich nach rechts und links und wehre mich noch gegen den Verdacht, man könnte es hier, im Vollfrühling an einem Werktagmorgen, wo kaum jemand vorbeikommt, ausgesetzt haben. »Hallo, hallo« rufe ich nun lauter gegen das Verbrechen an. Eine junge Frau tritt plötzlich aus dem Gebüsch. Sie sagt: »Ich habe nach alten Kastanien gesucht. Sehen Sie, und auch tatsächlich eine gefunden.« Sie öffnet die Hand, wahrhaftig: Eine graue Kastanie liegt darinnen. Ob sie das nur sagt, weil sie das schrumpelige Beweisstück zufällig in der Hand hält? »Sind Sie die Mutter?« »Aber natürlich, natürlich bin ich das. Ich bin die Mutter, und das ist mein Herzchen, die Nora, ja natürlich, wer sonst, Nora, Nora«, lacht sie und fährt singend den Wagen davon. Nora schläft drinnen wie ein Stein. So, alles in Ordnung.
Und wenn nicht ich, sondern einer der schwarzen Dobermänner mit dem tödlichen Gebiß gekommen wäre und der zweite mit ihm, und die dunkle Frau würde den Tieren aus der Ferne wieder träge zurufen: »Das ist keine Hundebesitzerin«, sonst nichts und sie machen lassen?
Hans legte abends, als alle kamen, gleich zu Beginn die schöne Musik auf, das italienische Duett von seinem ersten Abend im Tristanweg. Damals spielte er es uns am Schluß vor, ich hatte es die ganze Zeit über nicht vergessen. Was ich bei dieser zweiten Gelegenheit empfunden habe, das spreche ich nicht einmal mir selbst vor, lieber nicht. Nur: Ach, wenn er es doch nicht getan hätte!
Ob Anada an ihrem ersten Abend bei uns der Musik so zugehört hat wie ich an dem mit Herrn Scheffer?
Die Frauen hatten alle Stöckelschuhe an, das Mädchen trug seine flachen Reisesandalen. Besonders Iris Steinert, die auf die Schilderung von Hans hereingefallen und dadurch aufgestachelt war, zeigte sich von ihrer elegantesten Seite in moosgrünem, vorn hoch geschlitztem Kleid mit flaschen- oder nilgrünen Strümpfen und Schuhen, sehr hübsch. Sie wollte vermutlich der Indianerin vorführen, was europäische Mode bedeutet. Nun mußte sie feststellen, daß Anada gar nicht hinsah. Sie merkte überhaupt nichts von dem Aufputz der weiblichen Gesellschaft. Unser tückischer Liebling Hans wurde daraufhin seine eingekerbten Mundwinkel fast den gesamten Abend über nicht los. Der Streich mit dem falschen Gerücht war ihm geglückt.
Auch von der anderen Seite? Anada, schweigsam, aber sogleich
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