Gewäsch und Gewimmel - Roman
einmal an, wieder mit »Ich«. Es kam nur ein Seufzer heraus. Das hörte ich deutlich, die anderen täuschte er mit einem Husten drüber weg. Beim nächsten Anlauf schaffte er es. Diesmal hieß das Wort »Anada«.
»Anada«, sagte Hans da ganz ruhig im Nachrichtensprecherton, »hat mir in Dömitz, im Kommandantenhaus dort, etwas mitgeteilt. Ihr ist eine Idee gekommen. Sie hat in aller Stille eine Überraschung ausgebrütet. Wahrscheinlich wird sie die schon sehr bald in die Tat umsetzen, auch wenn’s aus finanziellen Gründen noch nicht 100 % entschieden ist. Sie will weiterreisen, weiter nach Osten, immer weiter, um schließlich am Ende wieder in Alaska einzutreffen.«
Dann drehte er uns den Rücken zu, ließ uns stehen, ging weg.
Und doch war erst gestern nacht – als ich aufgestanden bin, weil ich an die Anfänge und Enden der Wege dachte, wo es rechts und links wächst und welkt, modert und keimt, und wo von den Anfängen und Enden mir immer die eine, bestimmte Gestalt entgegenzukommen schien –, war erst gestern eine Nacht, in der ich dachte, im Mondschein nämlich: Ob ich überhaupt sterblich bin? Wie schrecklich für die Welt, da ich dann nicht länger an sie denken kann! Schon morgen würden die Apfelbäume sich nicht mehr so blähen mit ihren Blüten, der Mond würde anders dastehen, das Licht anders auftreffen als in der augenblicklichen Raserei. Und doch war der Mond eins der sanften Butterfässer, die in meiner Kindheit über ihr Vollmondgesicht Milde und Glanz verströmten. Er legte allem den schimmernden Pelz über, über alles wuchs ein unberührbarer Flaum. Der Garten dehnte sich senkrecht hoch in die kühle Einsamkeit. Ich konnte mich kaum retten vor dem Ansturm, konnte mich in der Gegenwart kaum fassen und dachte: Morgen erst, wenn ich mich erinnere, wird alles brausend zusammenschießen und wirklich für mich stattfinden. Ich wollte den Anblick mit beiden Fäusten in meine Augen drücken, um es später ganz allmählich im Dunkeln anzusehen. Ach Hans, ich, ich kenne die Liebe, das plötzliche, ruckhafte Stoppen der Tage. Ein totenstiller Ruck oder ein kreischendes Abreißen, kein Rausch: eine Starre, ein Absterben. Aber die Welt verlangt, daß man es übertüncht.
Man durfte doch von dieser reiselustigen Lebensanfängerin Anada nicht erwarten, daß sie unter den Krusten der älteren Gesichter um sie herum deren ewig junge, bewegliche Seelen wahrnehmen würde! Ich darf es ja meinerseits auch nicht von Hans verlangen. Verlangen! Als ich noch mit Mirko, mit dem Jungen an der Hand durch den Wald gehen konnte, da, ja da allerdings war in unserer Einigkeit der Unterschied ausgelöscht, und unser unverdrossenes Vorwärtsgehen ist in die Zeit unvergänglich eingebrannt.
Fängt es an zu regnen? Egal. Ich will noch nicht nach Hause, nein, nach Hause kann ich noch nicht.
Ohne es zu ahnen, brachte Anada uns in eine verheerende, eine alberne Situation. Ab jetzt mußten wir mit unserem tief getroffenen Herrn Hans bangend darauf lauern, wie sich die arktische Prinzessin entscheiden würde, und konnten nichts tun, als seinetwegen inständig zu hoffen, daß sie bei ihm bliebe. Wäre das schlitzäugige Ding doch sang- und klang- und schmerzlos verschwunden, dahin, wo der Pfeffer wächst oder die Eisbären hungrig nach ihr Ausschau halten, dachten wir aber gleichzeitig in großer Erbitterung. Doch, doch, so muß es gewesen sein. Bestimmt empfanden das Finnland und das Ehepaar Zock und Herzers und sogar der schwerkranke Hehe zu Hause nicht anders. Sie waren schließlich keine Unmenschen, Ilona, Iris, Bäder, sie hatten anfänglich alle ein wütendes Herz im Leib angesichts der Hilflosigkeit und Zerrüttung von Hans in der nun folgenden Zeit, in der es nur noch zu unvollständigen, flüchtigen Treffen kam.
»Und diese Unglückskrähe schläft ausgerechnet im Bett meines Sohnes«, sagte Sabine ab jetzt ohne Scheu. Ich hatte das Gefühl, sie rempelte die kleine Kröte extra an und trat ihr im Vorbeigehen auf die Füße, auch wenn sie sich dann entschuldigte. Zu böseren Attacken kam es nur deshalb nicht, weil Sabine befürchten mußte, die Sympathie von Anadas Schutzpatron Hans zu verlieren. Selbstbeherrschung war das kleinere Übel. Anadabemerkte das alles in ihrer rücksichtslosen Aufbruchstimmung nicht. Sie war überzogen von undurchdringlichem Alaska-Rauhreif, der nie wegtaute, schien auch nicht zu ahnen, eigentlich ein netter Zug von Bescheidenheit, daß ihre Abreise für irgendjemanden eine Katastrophe
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