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Gewäsch und Gewimmel - Roman

Gewäsch und Gewimmel - Roman

Titel: Gewäsch und Gewimmel - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Klett-Cotta Verlag
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ihrer Bewegungen und der Abruptheit, mit der sie nach ihrem letzten Bissen aufspringt und ihn ohne mit der Wimper zu zucken bei seinem Kartoffelgratin zurückläßt: »Tut mir leid, armes altes Bruderherz, ich muß weg!« Und was ist das? Sie hat sich die Lippen geschminkt!
    Dillburg wird es leicht zumute. »›Er küsse sie mit dem Kusse seines Mundes‹«, flüstert er hinter ihr her in das seit heute etwas lauere Wehen, ja schon linde Weben der kommenden Sommernacht, ausgerechnet zu seinem, Dillburgs, Trost vielleicht. Erst heute, erst jetzt rührt ihn auch, daß der in Wien so grausam ermordete Zuhälterbruder, der gegen Ende seiner kurzen Meßdienerzeit das Tabernakel nur noch »Brottrommel« nannte, bis zu seinem Tod nicht davon ablassen konnte, jedes Gehäuse als »Tabernakel« zu bezeichnen.
    Bei diesem Gedanken fällt ihm als Zugabe etwas anderes auf. Er, Clemens, hatte immer gedacht, die Bilder der Gotik wären ihm von Kind auf so unentbehrlich gewesen, weil sie das Göttliche vorstellbar machten im Fleische. Plötzlich ahnt er: Die eigentliche Freude war die, daß die ins Gemalte entrückten Gestalten einmal richtig auf der Erde lebendig gewesen waren mit Atem und Herzschlag und allem.
    Er lacht leise über sich in die Sommernacht. Sie ist voll faustdicker Sterne, an die sich, wie er kürzlich durch Vermittlung seiner Meßdiener von der Band »Rammstein« gehört hatte, die Engel »krallen, damit sie nicht hinunterfallen«. Die große Versuchung war für ihn nicht die eventuelle Leere des Alls, eher das Eingesperrtsein darinnen. Egal, wie weit man darin vorankam, man würde mit dem Kopf anstoßen, an den Milchstraßen, anden Kleinstpartikeln und Antiuniversen, sosehr man auch dagegen anrannte. Das ging, bis die Anfechtung, von der er sich kaum aus eigener Kraft befreien konnte, von ihm genommen wurde.
    Jetzt aber: »Er küsse sie mit dem Kusse seines Mundes.«
Besiegtes Grauen
    Herbert Wind kann es nicht lassen. Trotz zaghaft, wenn auch unzuverlässig steigender Temperaturen und vorsichtig unter dem Mond einsetzender Akeleiblüte geht ihm ein Bild aus den Bergen Graubündens durch den Kopf. Gerade jetzt? Das auch, aber vor allem: jetzt gerade!
    Er sieht ein von innen erleuchtetes Holzhaus im Schnee. Ein Aufflammen freundlicher Verheißung: So fällt das Licht durchs Fensterchen in die eisige Dunkelheit. Draußen herrschen das Wüste und das Schaurige. Es beginnt direkt neben den Lichtschneisen. Was für ein Triumph rötlicher Wärme für den Abendwanderer. Wie freut er sich später von innen über das Grausige draußen!
    Aber wieso »jetzt gerade«? Weil er heute in der nagelneuen, kalkweißen Ortsteilerweiterung nach der für ihn zuständigen Finanzbehörde wegen Abgabe der Steuerunterlagen gesucht hat. Die frisch angelegten Straßen waren baum- und menschenleer, die Fronten der noch immer unvermieteten Häuser blendeten im kahlen Licht. Er kennt das von den Gebissen der Wintersportler. Herbert Wind irrte beschämt zwischen den Zahnreihen umher. Aber auch sie, die Behörde, schien sich zu genieren, denn sie kündigte sich in einem der Bauten nur durch ein lächerliches Schildchen an. Wind entdeckte nicht gleich, in welcher Etage die Zweigstelle residiert.
    Er stieg bis ins vierte Obergeschoß und begegnete keiner Menschenseele, sah nur allein, als einziges Lebewesen, in die leeren, noch nicht eingerichteten Fallen, jedenfalls Räume, die Beute,zumindest Benutzer ersehnten. Zwischendrin gab es eine Ausnahme, eine auf Patienten in tiefer Einsamkeit wartende Gynäkologenpraxis. Aber welche Frau würde ihre heikelste Körperzone diesem Frost anvertrauen? Ja, etwas zudringlich Flehentliches, um erlösendes Einnisten Bittendes war in dieser Gräue und Auslegeware. Es schrie zum Himmel. Bloß schnell weg hier! Hier herrschte, anders als in den Alpen, das Schaurige drinnen, draußen die Lebensfreundlichkeit.
    Dort aber, draußen, begegnete ihm ein Mann, wie gottverlassen wandelnd. Scheu fragte er Wind, wie ihm denn das Ganze gefalle? Er selbst sei nämlich der Architekt.
    Der Architekt selbst in Person! Und schlich hier herum, so verhärmt? Herbert konnte nicht anders, er sagte: »Gut.« Da fing der Mann an, aufzublühen, errötend und plötzlich unverbittert.
    Wind log, als er die Freude des anderen sah, immer lauter und frömmer: »Gut! Gratuliere! Schön, wirklich schön! Ist doch großartig, Mensch!« Wie lebte er auf, der Architekt!
    »Richtig gelungen!« rief Wind ihm nach, von Nachsicht beschwingt, ja

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