Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Gewäsch und Gewimmel - Roman

Gewäsch und Gewimmel - Roman

Titel: Gewäsch und Gewimmel - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Klett-Cotta Verlag
Vom Netzwerk:
Stunde lang, einfach so vor sich hin).
    »Wir haben einander lange betrachtet. Einer hat den Blick des anderen, ohne mit der Wimper zu zucken, ausgehalten. Aber dann, dann, Herr Dillburg, stellte ich fest, und zwar, als sie ihre Augen aufschlug, die nämlich in Wirklichkeit geschlossen gewesen waren die ganze Zeit, daß ich zwei Flecken im Fell, etwas oberhalb der Augäpfel, für ihre echten, weit aufgeschlagenen Augen gehalten hatte. So eine Enttäuschung!«
    Sie sagte es dem Geistlichen lächelnd, aber er hörte aus ihrer Stimme einen Vorwurf, als sei auch hier, wie beim lockenden Glockengeläut, theologischer Betrug am Werk.
    Am merkwürdigsten erscheint dabei, daß derselbe Irrtum in der Wahrnehmung erst kürzlich Frau Wäns, Luise Wäns da draußen im Tristanweg, unterlaufen, ja, widerfahren ist.
Dillburgs Antwort
    Er hat Frau Fendel nicht geantwortet. Vielleicht weil er zu müde war, auch an diesem Tag schon genug gepredigt und erbaut hatte. Dillburg wollte es, was für die alte Dame vermutlich sogar das Allerbeste war, einfach als nette Anekdote auffassen. Für Frau Fendel stellte sein still schmunzelndes Männergesicht nach einem ihrer menschenleeren Tage, er ahnte es durchaus, ohnehin die beste Stärkung dar.
    Auf dem Nachhauseweg allerdings, als ihm bei jedem Aufsetzen die Füße – besonders schlecht für einen Zuckerkranken – wehtaten, spürte er scharf, daß auch er sich dem Blinzeln, das in der kleinen Täuschung lauerte, nicht entziehen konnte. Aber so geübt er darin war, sich einer Szene wie dieser durch Entschlüsseln zu bemächtigen: Er versagte es sich im vorliegenden Fall, verbot es seinem Gehirn. Das Bild sollte schweigsam bleiben. Kein Satz, kein Wort. Allerdings erinnerte er sich nun, daß er kürzlich einer jungen Mutter in ihren Kinderwagen mit Zwillingen herzlich hineingelächelt hatte, dann aber erkannte, daß nur Salatköpfe darinnen lagen.
    Als er schon das Licht gelöscht hatte, fiel ihm zum ersten Mal nach dem gewaltsamen Tod des Bruders eine Begebenheit von der Wiener Beerdigung ein. Dieser Bruder war in seiner frühen Jugend fromm und altväterlich gewesen, während er, Clemens, in der Messe oft nur scheinbar zum Altar sah, in Wahrheit dagegen übte, wachsam nach rechts und links zu schielen als Westmann, der seine Feinde im Auge behält. Auf dem Friedhof hatte hinter Dillburg eine Männerstimme ständig einen Vers geflüstert, den Dillburg aus der Kindheit kannte: »Osterbeen, Osterbeen, ohne Glaubensterbeen ist des Menschen Pferdebeen.« Der Trauergast hatte das infantile Sätzchen gewissermaßen in Dillburgs Ohr geflüstert. Dillburg wandte sich nicht nach ihm um. »O Sterben, o Sterben, ohne Glauben sterben ist des Menschen Pferdebeen.« Verderben, Verderben! Es kreiste, lächerlich und beschämend, in seinem Kopf, es hörte nicht auf, es handelte sich um die Ermordung seines einzigen Bruders und ließ sich nicht abstellen.
    Auch hatte er ja die Stimme am nächsten Tag im Aufzug zur Kuppel der Karlskirche wiedererkannt und sich auch bei dieser Gelegenheit lieber nicht umgedreht. Er war mit anderem beschäftigt gewesen, als die Fresken, die nicht für die Gläubigen da unten im Kirchenschiff so schön und detailreich gemalten, in Augenhöhe vor ihm auftauchten: Wie viele Zweifel und Widersprüche ließen sich wohl in die alten Formeln, in die Rituale, die Bilder und Geschichten einfüllen, ohne sie zu zerreißen, so daß trotz aller Skepsis bei ausreichender Demut die strahlende Form bestand und tröstete?
Letzte Nachrichten
    Man hat jetzt in den Papieren von Pratz auf einem zerknitterten Zettel doch noch eine Notiz gefunden. Man solle in der Gegenwart immer nur Eindrücke sammeln und keine Erwartung hegen an deren unmittelbaren Genuß. Der entstehe erst in der Erinnerung,die man durch die Empfindung einer heimlichen Enttäuschung unnötigerweise trüben würde. Dann hätte man am Ende gar nichts. Beinahe unleserlich folgt dann die Überraschung: Offenbar plante Pratz, sich mit 65 Jahren vollständig zurückzuziehen, von Familie, Freunden, Öffentlichkeit, um auf diese Weise seinem Lebenslauf einen mysteriösen Dreh zu geben, freilich nicht ohne sicherheitshalber versteckte Zündschnüre in die Zukunft zu legen. Bis zu seiner unvermeidlich explosiven Wiederentdeckung.
    Auf einem zweiten Papier entzifferte ein Doktorand folgende Stichwörter: »An Böschung junges Paar. Nebeneinander hingeworfen. Schlafend wie Erntearbeiter bei Mittagspause beim alten Niederländer. Zwei

Weitere Kostenlose Bücher