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Gewäsch und Gewimmel - Roman

Gewäsch und Gewimmel - Roman

Titel: Gewäsch und Gewimmel - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Klett-Cotta Verlag
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wir nicht viele aus dem Gewirr herauskennen, aber doch wenigstens die Namen und manchmal die Geschichten, wie es zu ihnen gekommen ist.
    Den Vollmond habe ich immer als eine besondere Annäherung erlebt. Wenn jemand fragt: »Annäherung wovon?« könnte ich nur antworten: »Weiß ich nicht, eine Annäherung von etwas Dringendem, durch eine kreisrunde Öffnung hindurchgezwängt.«
    Zum ersten Mal nach zwei Monaten darf ich wieder allein losgehen. Alles wirft einzelne Schatten auf den Boden im blattlosen Wald. Es braust in den Kiefern. Die Teiche sind zum Teil aufgetaut und viele Bäume in die Sümpfe gestürzt, wie Hans es will. Ich muß singen, es bricht aus mir heraus, ein scheußliches Krähengekrächze, aber ich kann es nicht zurückhalten. Anna Hornberg würde sich ihrer Enkelin schämen. Alles ist matschig, es macht nichts, ich gehe in meinen Gummistiefeln zwischen dentiefen Spuren der Pferdehufe. Nach dem verrückt langen Ausgehverbot ist man zu Tränen gerührt.
    Die Chinesen, zu denen, wie vor achtzig Jahren meine verwegene Großtante Isa, unglücklicherweise Anada aufgebrochen ist, können jetzt in ein paar Minuten den Wein reifen lassen, damit er sein Aroma kriegt. Ich habe es gelesen, als ich krank war, und es war keine Medizin für mich. Sabine wollte damals, als ihr Sohn noch lebte, den Jungen nach Amerika und Hongkong schicken, damit in ihm gar nicht erst unser veraltetes Weltbild entstünde. Ausgerechnet in Mirko nicht, dem doch die Ornithologie über alles ging. Dann kam das italienische Mädchen, und das war für ihn zu Anfang ein Wunder. Als sie sich »Mito« nannten, hatten sie nichts mit denen zu schaffen, die sich die Augen zuhalten, mit einer Nadel im Atlas irgendwo hinstechen und dann zu Spottpreisen an diese zufällige Stelle fliegen. »Zum Kotzen!« hat Mirko gesagt. In meinen Ohren war es Engelsmusik, gerade weil es eine so junge Stimme aussprach.
    Mir selbst genügt es, diese Wege zu gehen. Wenn ich nur immerzu gehen kann! Das ist nämlich meine Unendlichkeit. Von allen Seiten schießt sie in unser kleines Naturschutzgebiet und reckt es auseinander ins Riesige. Es wird auch noch stärker. Ich habe, durch die Krankheit abgeschnitten von der Landschaft hier draußen, oft nachgedacht über die Abende vor einem Jahr, konnte aber in den vier Wänden nicht davon reden. Ging es nicht auf den Abend los, als der große Einschnitt kam, nach dem nichts mehr war wie davor?
    Es war ein deutliches Zeichen, auch wenn wir es nicht sofort begriffen, daß Ilona bei diesem Treffen mit Herrn Hans zusammen als letzte eintraf. Aber sie lächelte nicht. Im Hellen sahen alle, wie zerzaust sich die immer so muntere Freundin Hehes diesmal zeigte. Von süßer slawischer Verschlafenheit keine Spur. Herr Hehe nahm ohne zu fragen das kleine Nervenbündel eine Weile in die Arme und verzog keine Miene, als sie schluchzte. Einkluger, unverfälschter Menschenfreund, dieser Schlachter. Dem sonst so tapferen Mädchen war ja zugestoßen, was ich, die nicht legal dem Kreis dieser Leute angehört, als einzige noch aus der Kindheit, aus der Kriegszeit als das Normale kenne, was mir bis heute jedes noch so lustige Feuerwerk vergällt und was ich niemals vergesse: Als sie frohgemut, bestimmt in Vorfreude auf unseren Herrn Hans, aus der Praxis von Herzer nachhause gelaufen war, hatte sie von der Straße aus und schon von weitem in ihr halbiertes Badezimmer gesehen. Wanne, Klo, alles an die Öffentlichkeit gezerrt und ohne Zudecke und vierte Wand.
    Den übrigen Bewohnern des Mietshauses ging es genauso. Halbe Schlafzimmer, halbe Wohnzimmer, halbe Küchen, das andere weggerissen, Einblick für alle ins Private. Hier gewöhnlicher Fußboden, zehn Zentimeter weiter der Abgrund. Eine Hundestaffel suchte in den Trümmern nach Verschütteten. Die Ursache war eine Rauchgasexplosion, vermutlich durch Schwelbrand. Ilona hatte sich zu uns aufgemacht, sobald die Polizei es ihr nach Hinterlassen unserer Adresse gestattete. Man wußte noch nicht, ob es Tote geben würde. Niemand versagte ihr die Bewunderung.
    Hans aber, der sie so gern sprechen hörte wegen des leicht Fremdländischen und melancholisch Weichen, egal, um was es sich drehte, ließ sich den Vorfall gleich ein paarmal schildern. Es gelang ihm, Ilona zu immer besseren Pointen anzustacheln. Er strahlte wie beim Würfelspiel und meinte sogar: »Tot? Unsinn! Wenn jetzt jemand vermißt wird, stellt sich morgen heraus, daß der Mann irgendwo gezecht hat. Seine Wohnung im Freien wird er bei

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