Gewagt - Gewonnen
seine Erfahrungen gemacht haben und eine gute Portion Dickfelligkeit besitzen, um mit solchen Enttäuschungen fertig zu werden. Astrid hatte keine Erfahrungen, und sie war jung und weich.
Per sagte nicht mehr, sie sähe reizend aus. Er war liebenswürdig, aber auf eine ganz unpersönliche Weise, und seine Stimme hatte nicht mehr den warmen Klang, wenn er mit ihr sprach.
Am nächsten Tage gab es viel zu tun. Es erfolgte eine Reihe von Telefonanrufen. Astrid notierte. Sie machte ihre Arbeit, wenn möglich noch genauer als sonst.
Gegen Schluß der Sprechstunde legte sie, wie gewöhnlich, Per den Schreibblock vor. Sie glitt still wieder aus dem Sprechzimmer hinaus und schickte sich an, die Tür zuzuschließen. Da wurde diese stürmisch aufgerissen, und Gerda drang wie ein Wirbelwind ein. Diesmal trug sie keinen Overall. Sie trug ein Kostüm, von einem erstklassigen Schneider gearbeitet, einen großen Platinfuchspelz und einen ungemein flotten Hut.
„Guten Morgen, Fräulein Liberg. Hat Per vierbeinigen Besuch? Nicht? Fein! Nein, Sie brauchen mich nicht anzumelden. Ich komme als freudige Überraschung."
Sie klopfte nicht an, sondern stürmte ohne weiteres in das Sprechzimmer. Die Tür blieb angelehnt.
„Hallo, Per!"
Astrid hörte den Stuhl über den Fußboden schurren, als Per aufsprang.
„Du, Gerda? Welch freudige Überraschung!"
„Nicht wahr? Ich habe in der Stadt Einkäufe gemacht, und nun habe ich Lust, irgendwo den Lunch zu nehmen."
„Großartig, meine Liebe! Ich werde im Bellevne anrufen und einen Tisch bestellen."
Per telefonierte. Astrid sah im Geiste, wie Gerda sich im Sprechzimmer umschaute.
Der Hörer wurde auf die Gabel gelegt, und nun hörte Astrid Gerda lachen. Ihre Stimme - sie sprach immer sehr laut - war im Nebenzimmer deutlich zu hören:
„Großer Himmel! Welche Genauigkeit, Per!" Gerda las, mit einer ganz leichten Nachahmung von Astrids Stimme, laut vor, was auf dem Telefonblock stand:
„Hofbesitzer Meland befürchtet Frühgeburt. Trächtige Kuh. Bittet Sie, möglichst bald zu kommen." - „Hellgaard klagt über Euterentzündung bei drei Kühen. Früher nie zu klagen gehabt." - „Direktor Brandt-Jensen fragt an, ob Sie bei einer Zwangspaarung zugegen sein können. Nervöse Airedalehündin."
Gerdas schallendes Gelächter drang durch die halboffene Tür und gellte Astrid schmerzhaft in den Ohren. Sie hörte Per gedämpft in ihr Lachen einstimmen:
„Spotte nicht, Gerda! Die Kleine macht es, so gut sie kann. Laß ihr doch das Vergnügen, die Bestellungen so detailliert auszuarbeiten! - Sagtest du nicht, du wärest hungrig? - Also, gehen wir! Bist du mit deinem Wagen gekommen?"
„Nein, mit dem Bus. Du darfst mich in deinem Wagen nach Hause fahren."
„Es wird mir ein ganz besonderes Vergnügen sein. Ich bewundere deine Voraussicht."
Es folgte eine kleine Pause. Astrid saß still, ganz still an ihrem Schreibtisch. Sie hatte die Lippen zusammengepreßt. Sie wollte den ekelhaften Klumpen, der ihr im Halse saß, mit aller Gewalt zurückzwingen.
Da kamen sie, vergnügt, lächelnd, geschäftig.
Gerda sagte ein paar freundliche Worte im Vorübergehen, Per nickte ihr zu und sagte, er wäre den Nachmittag besetzt. Krankenbesuche müßten auf morgen verschoben werden. Dann war Astrid allein.
Sie hörte wieder Gerdas Lachen. Dann knallte die Fahrstuhltür zu. Nun fuhr der Fahrstuhl nach unten. Sie stand auf und trat an das Fenster. Da kamen die beiden aus der Haustür. Per schob seinen Arm unter den Gerdas. Ihr Haar war so blendend hell unter dem flotten Hut, und der Platinfuchspelz hing so kleidsam über ihren geraden, breiten Schultern.
Jetzt gingen sie zum Wagen. Per öffnete die Tür, half ihr beim Einsteigen, stieg selbst ein, lächelte, sagte etwas.
Dann fuhren sie.
Astrid starrte in den klaren Herbsttag hinaus. Auf Bellevue mußte es heute wunderschön sein.
Sie sammelte die gebrauchten Instrumente, legte sie in den Kocher und schaltete den Strom ein. Alles geschah automatisch.
Sie trat wieder ans Fenster und blickte auf den Platz hinunter, wo der Wagen geparkt hatte. Sie lehnte die Stirn gegen das Querholz. Und da kamen die Tränen.
Frau Liberg ertrug es nicht länger, das blasse kleine Gesicht zu sehen. Hein war fortgegangen. Mutter und Tochter waren allein zu Hause. Klein und bleich und schmal saß Astrid am Nähtisch und stopfte Strümpfe. Die Mutter schaute zu ihr hinüber. Lange blieb es still. Dann stand Frau Liberg auf, ging zu Astrid und strich ihr über das
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