Gewalt ist eine Loesung
die ich am Rande mitbekam, nicht mehr als Straftaten wahr. Mein beim Grenzschutz in unzähligen Stunden eingebläutes Rechtsempfinden stumpfte immer weiter ab, ohne dass ich es mir selbst eingestanden hätte.
Die zum Teil fatalen Konsequenzen schwerer Schlägereien, die Verletzungen, Sachbeschädigungen und Spätfolgen, wurden von mir hingenommen, ohne auch nur irgendetwas kritisch zu hinterfragen. Wenn jemand durch gezielte Fußtritte schwer am Kopf verletzt wurde, gab es dafür bestimmt einen Grund, dachte ich zu jener Zeit. Moralische Bedenken hatte ich keine. Oder keine mehr.
Die Hochzeitsfeier ging bis morgens um 6 Uhr. Wir standen die letzten Stunden singend Arm in Arm mit nackten Oberkörpern zusammen. Wir schrien unsere alten Fußball-Lieder oder brüllten Schlager von Udo Jürgens – »Griechischer Wein« und »Ich war noch niemals in New York«. Dazu die alten Scheiben der Böhsen Onkelz. Unsere Hymnen, unser Lebensgefühl.
Nur zwei Tage später fuhr ich wieder nach Ostberlin und verrichtete meinen Nachtdienst – Streife in einem alten Polizei-Trabbi. Unser Einsatz: ein Toter auf einer S-Bahn-Strecke. Noch war völlig offen, ob es sich um Mord oder Selbstmord handelte. Ich hatte schon einige Selbstmordopfer sehen müssen. Erhängte im Wald, im Badezimmer. Zwei Frauen mit Schlaftabletten und auch einige Schwerverletzte nach Unfällen, aber noch nie eine stark verstümmelte Leiche auf den Schienen. Der tote Mann lag auf 100 Metern zerstreut auf den Gleisen. Als Erstes sah ich einen abgetrennten Arm, ein abgetrenntes Bein und dann den Torso. Der Kopf war am Halsansatz abgerissen. Über der Brust klaffte eine riesige, blutende Fleischwunde. Der Kopf fehlte komplett. An einzelnen Stellen erkannte ich etwas Gehirnmasse und Stücke vom Schädelknochen. Neben einem Gleis lag etwas in der Größe eines Tennisballs. Eine haarige, verklumpte Masse. Wie sich später herausstellte, war das der Rest seines Kopfes. Der Mann schien betrunken in den Tod gesprungen zu sein, wie die Ermittlungen ergaben. Alkohol verdünnt menschliches Blut erheblich. Und es verstärkt den außergewöhnlichen Geruch um ein Vielfaches. Auf dem Gleiskörper stank es nach frischem Blut.
Jede Fundstelle, an der ein Körperteil des Mannes lag, musste markiert und dokumentiert werden. Am Ende übernahm die Feuerwehr den Abtransport der Leichenreste. Auf zwei Tragen schafften sie den Mann vom Tatort. Eine für den Torso, auf der anderen sammelten sie Arme, Beine und das, was von dem Kopf noch übrig war. Mit einem Löschschlauch spritzten die Feuerwehrleute das Blut und die Hautfetzen von den Gleisen und nach nur eineinhalb Stunden Unterbrechung nahm der ganz normale Großstadtverkehr der Metropole wieder seinen gewohnten Gang. Niemand würde mehr erahnen können, welche Tragödie sich hier gerade abgespielt hatte.
Zwei Wochen später verließ ich Ostberlin wieder und kehrte zum Grenzschutzkommando Nord nach Lüneburg zurück. Bei aller Freude über die Wiedervereinigung Deutschlands – dieser Job war es nicht, weshalb ich mich damals beim großen BGS beworben hatte. Das war nicht die Welt, die ich immer noch suchte. Ein Bundesbeamter ist so etwas wie die menschliche Verfügungsmasse des Staates. Ohne Rücksicht werden Menschen je nach Bedarf von einem Ende der Republik an das andere versetzt. Kameraden, die ein Haus gebaut hatten, deren Kinder vielleicht gerade eingeschult waren, mussten im schlimmsten Fall alles wieder aufgeben, um die neue – von oben angeordnete – Planstelle anzutreten.
Ich hatte kein Haus, keine Kinder, keine sozialen Netzwerke, die mich an einen bestimmten Ort gebunden hätten, aber auch für mich kam der Punkt, an dem ich so nicht mehr weitermachen wollte. Bielefeld war mein Lebensmittelpunkt. Schon immer. Hier war ich aufgewachsen, hier war ich zur Schule gegangen, hier waren meine Freunde – und hier waren meine Jungs. Ich wollte weder in Ostberlin mit einem Polizei-Trabbi durch die nächtliche Stadt patrouillieren noch irgendwo an der polnischen Grenze Schmugglern oder illegalen
Einwanderern auflauern. Ich musste zu jener Zeit leider feststellen, dass die Stelle beim BGS schon längst nicht mehr der Traumjob für mich war. Die Alternativen waren unattraktiv: polnische Grenze, Objektschutz im Regierungsviertel oder Passkontrolle auf einem Großflughafen.
Und so quittierte ich meinen Dienst beim Bundesgrenzschutz und unterschrieb ein paar Monate später bei der Landespolizei Nordrhein-Westfalen. Da mich nach
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