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Gewalten

Gewalten

Titel: Gewalten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clemens Meyer
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Fall scheint mir schon speziell, mein Lieber, aber darauf kommen wir noch, also, ich steh schon auf Brüste, und die hatten die Mädels, die ich da beobachtet habe, und nicht zu knapp manchmal unterm engen Sportshirt, vielleicht waren auch mal welche aus der achten Klasse dabei, was weiß ich denn, haben sie ja nicht auf ihre Klamotten gedruckt, und da sind welche dabei, da würdest du denken, die sind volljährig, also zu meiner Zeit war das anders, aber das sind ja richtige Sexbomben mit fünfzehn, sechzehn, und so steh ich also auf dem Fensterbrett, manchmal die ganze Sportstunde über steh ich da und schwenke mein Okular, links und rechts, und dort machen sie jetzt Weitspringen, wie schön das wippt, und die größte Angst ist
die, entdeckt zu werden. Und du?, hattest du keine Angst, dass jemand klingelt oder klopft in der Zeit? Und überhaupt erstmal mit ihr in die Wohnung zu kommen, noch seid ihr ja auf der Treppe. In meinem Haus wohnen, Moment, da muss ich nachdenken, also ich unten ganz allein im Erdgeschoss, aber ich zähle ja nicht, um mir selbst zu begegnen, müsste ich in einen Zeitparadoxnebel geraten wie der Raumfahrer Ijon Tichy, also noch mal: oben die beiden, dann der Araber, der eine Typ ist grad im Knast, müsste aber bald wieder raus sein, führen wir ihn also als anwesend, sind vier Leute, und das war’s auch schon, denn die Wohnung über mir ist leer, im Erdgeschoss und im ersten Stock gibt’s nämlich nur eine Wohnung jeweils, wir sind ein sehr schmales Haus; sind also vier Leute, und sehr, sehr oft, das muss ich schon sagen, weil’s mich selbst wundert, wie oft das ist, treffe ich einen von denen, wenn ich ins Haus komme. Was hättest du gemacht, wenn plötzlich die Nachbarin auf der Treppe gestanden hätte oder der Mann von oben, der einkaufen gehen will. »Guten Tag« oder »Hallo« oder einfach nur »Tag«, vielleicht auch »Grüß dich«, denn die Leute haben dich schon gemocht, zumindest habe ich das so gelesen, klar, dass du früher oft geärgert wurdest, wegen deiner Behinderung, also ich darf das doch so sagen, obwohl’s natürlich gar keine richtige Behinderung ist, immerhin hast du Realschulabschluss, leichte Motorik-Probleme und beim Sprechen manchmal bissel langsam, das ist wegen so ’ner Gensache, Trisomie 8 , und du musst wohl ein leichter Fall sein, denn so ein Körperklaus wie andere, die so was haben, bist du doch nicht
, langer Brustkorb, Besonderheiten bei der Anzahl und Breite der Rippen, überzählige Brustwarzen, hoher, schmaler Gaumen, Gaumenspalte, breite Nase, häufig aufwärtsweisende Nasenlöcher, Herabhängen eines oder beider
Augenlider, Kurzfingrigkeit, schmale Darmbeinschaufel, Flüssigkeitsansammlung im Nackenbereich
... holy ghost und meine Fresse!, du müsstest ja der reine Frankenstein sein, aber du siehst aus wie ein lieber Teddy, ich hab dich doch im Gerichtssaal gesehen, nee, ich saß ganz hinten, und ja, wirklich, du siehst ganz nett aus, bisschen unbeholfen, bisschen dicklich, aber so Typ lieber Junge von nebenan, meine Mutter hat erzählt, dass sie dich ein paar Mal im Schlecker gesehen hat, glaubt sie zumindest, sie weiß nur nicht, ob’s
vorher
oder
nachher
war, da bist du ja ab und zu gewesen und hast mit den Verkäuferinnen geplauscht, wie schrecklich das ist mit der Kleinen und dass du dir’s gar nicht vorstellen kannst, dass da jemand ... Nun hab ich wieder den Faden verloren, »Guten Tag«, nein, denn da kam keiner, und du bist mit ihr an der kleinen Kammer vorbei, die früher mal das Außenklo war, wo sie dann später drin stand, ich glaub sogar ein paar Tage, zumindest zwei Tage oder so, ich will jetzt nicht noch mal nachschauen, ist nämlich keine schöne Sache darin rumzukramen und zu -wühlen, kannst du mir glauben, und dann klimpert dein Schlüsselbund, kann denn nicht mal jemand schauen, was das für Stimmen sind im Haus, Stimmen, Stimmen, also in deinem Kopf, da muss doch ... also, ich weiß nicht recht ... die absolute Ruhe? Oder Chaos?, Mensch, weißt du, als ich mein erstes Mädchen hatte, also natürlich ganz anders, die war nämlich in meinem Alter, mein Lieber, so wie sich das gehört, jetzt hätt’ ich das fast mit dem zweiten Mädchen verwechselt, die war nämlich älter als ich, das war in einem Puff gewesen, so ’n altes runtergekommenes Haus war das, und drinnen in jeder Wohnung die Frauen, Weihnachten war das, irgendwann in den Neunzigern, mit meinem Freund M, der ist auch tot
mittlerweile, aber aufgeregt war ich

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