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Gewalten

Gewalten

Titel: Gewalten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clemens Meyer
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versuchen. Mein Großvater, der alt und grau hier in Halle wohnt, ganz in der Nähe des Flusses und dieser Insel zwischen den Strömen, und auf ein Zeichen wartet, das meine Großmutter ihm aus dem Jenseits zu geben versprach, hat einmal mehrere hundert D-Mark beim Roulette gewonnen, 1984 in der Spielbank Hannover, alles auf die 21 , Quersumme 3 , beim ersten Mal getroffen, ich muss irgendwann nach Hannover fahren und dort das erbliche Familienglück suchen, das irgendwo noch in den Räumen oder zwischen den Teppichen stecken
muss
, alles auf die 21 ! Es gibt wohl ein Black-Jack-System, das bringt kleine, aber sichere Gewinne, aber die Casinos haben das Procedere des Black Jack geändert, darüber schrieb Jörg Fauser.)
    Wir sitzen auf der Tribüne und studieren die Formen der Pferde im dritten Rennen. Die Tribüne und die Wiese haben sich mit Menschen gefüllt. Viele Hunde auch, haltet eure Hunde fest. Mein Hund liegt zu Hause und stirbt sehr
langsam. Halle ist eine schöne Stadt, es gibt Felsen und Berge entlang der Saale und eine Burg auf einem der Felsen und verwinkelte Straßen mit kleinen Häusern an den Hängen und am Flussufer, eine bewaldete Insel, die den Fluss in zwei Ströme teilt, über eine hoch geschwungene, kalkuliert schwankende Brücke zu erreichen, diese sumpfige Insel, in den Bäumen hängen dort Autoreifen und Plastiktüten von den Hochwassern, das Rauschen eines großen Wehrs in dem einen Flussarm, Freunde meines Großvaters sind dort ertrunken, eine kleine Schleusenstation in dem anderen Arm, geheimnisvoll das System dieser Tore im schwarzen Wasser. Die Rennbahn liegt auf der anderen Seite der Stadt, kein Fluss, keine Berge, und die nackten Türme der Neustadt hinter den Bäumen machen mir Angst jedes Mal. Die Nummer 4 ,
Leopardo
, ich weiß es, und weiß nicht genau, wieso. Außenseiter, 250 für 10 . Erst einen Start, aber nur Dreijährige laufen in diesem Rennen, und einige starten zum ersten Mal. Aber kein Außenseiter siegt ohne Grund. »Etwas startschwierig«, sagt die
Sportwelt
, »wird sich mit mehr Routine auch zu steigern wissen.« Und das bedeutet doch, muss doch bedeuten, dass er bei diesem einen Start zuvor, als er letztes Pferd von sieben geworden ist, schlecht aus der Startbox gekommen ist. A. Best, der Pilot, hat das vorherige Rennen gewonnen, ist also in Schwung, guter Mann, hat
Leopardo
auch schon beim ersten Start geritten und wird jetzt wissen, wie er ihn gut abspringen lässt. Wie viel soll ich setzen?, 20 , 50 , 100 ? Zwei andere Pferde sind klar favorisiert. UKG tippt einen Dreiereinlauf, nimmt die Nummer 4 mit den beiden favorisierten Pferden in die Kombination,
Le Berlin
wird laut seiner Berechnung Erster oder Zweiter, muss es werden, das Bankpferd, sonst bricht seine Kombination zusammen.
Und sie bricht zusammen, denn
Le Berlin
wird auf der Zielgeraden überlaufen, endet nur auf dem dritten Platz. Und es ist
Leopardo
, der ihn überläuft, der auf den letzten Metern unwiderstehlich, ja unwiderstehlich!, anzieht! Ich springe auf und schreie: »Geh, geh, geh!«, und er geht, driftet weit auf die Außenseite der Bahn auf der Zielgeraden, kämpft auch noch
El Okowango
nieder, der neben ihm nur eine halbe Länge zurückliegend, auf der Innenseite der Bahn galoppiert, und
Leopardo
gewinnt das Rennen, 219 für 10 steht die Quote zuletzt, verdammt nochmal, warum habe ich ihn nur für 20 gespielt, hatte ich den 50 -Euro-Schein doch schon in der Hand! Ein alter Mann schimpft hinter mir, dass ich ihm die Sicht versperre, dabei ist das Rennen längst vorbei. Und seine Frau will ihn beruhigen, aber er nennt es eine Unverschämtheit, dass ich da vor ihm stehe, die Ohnmacht und Wut eines Verlierers ... Berlin, Hoppegarten, ich sitze auf den unteren Treppenstufen der Brücke, die zur S-Bahnstation führt, die beiden Bahnsteige vor mir, Menschen, die warten, laut, still, zusammengerollte Segel der
Sportwelt
in manchen Taschen. Hinter der Brücke dunkel der Wald, in dem die Rennbahn kreisrund wie ein gewaltiges Ufo liegt, die Kommandozentrale der Tribüne und die Wetthalle dort im Inneren. Ich lehne am Geländer, die Beine wie Gummi, dass meine Knie sich berühren, Stimmen hinter mir, die Letzten gehen von Bord, wollen zurück in die Stadt, ich bekomme einen Stoß in den Rücken, der ein Tritt ist, denn noch einmal spüre ich den Schuh, dessen Spitze sich in meine Lendenwirbelsäule bohrt, bevor ich aufspringe.
    (Seit Jahren drücken meine Lendenwirbel auf Nerven, quetschen sie an

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