Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Gewalten

Gewalten

Titel: Gewalten
Autoren: Clemens Meyer
Vom Netzwerk:
großer Aufsteller neben der Tür: WAHRSAGERIN MADAME L , KARTEN , KUGEL , HANDLESEN – ERFAHREN SIE IHR SCHICKSAL . Ich hatte ein Taxi genommen, denn der Rummelplatz lag weit draußen, am Rand der Stadt. Ich konnte die Lichter schon von weitem sehen. Um das Areal herum lagen die flachen Häuser der Vorstadtsiedlungen. Und die schienen wirklich dunkel und leer zu sein, nur hier und da ein gelbes Fenster. Ich versuchte, durch den Türspalt zu blicken. Das kleine Fenster war von innen verhängt. Ich lief weiter, links und rechts Buden und Fahrgeschäfte, und
das
mussten sie meinen, die Spötter der Stadt Bielefeld, diese Leere zwischen den bunten Fassaden, denn kaum einen Menschen traf ich dort. Später erfuhr ich, dass zur selben Zeit ein Fußballspiel stattfand, oben auf der Alm, im ansonst flachen Land, Arminia Bielefeld. Ich habe diesen Berg mit dem Stadion nicht gesehen. Ich wäre gerne hinaufgestiegen und hätte auf die Stadt geblickt, vielleicht hätte ich den Rummelplatz erkannt, und, wenn ich Augen gehabt hätte wie dieser eine im Märchen, mich selbst zwischen den Buden und Karussells. Und nur wenige Menschen auf der Herbstkirmes Bielefeld, es hat angefangen zu regnen entzwischen (dieses Wort gibt es scheinbar nicht, ich muss
inzwischen
meinen), die Wolken werden aus der Börde kommen, aus der Endmoräne um die Stadt M.
    Und an einer Schießbude bleibe ich stehen, ich liebe Schießbuden. Der Mann reicht mir eine Flinte, fünfundzwanzig Schuss. Weiß nicht mehr, was das gekostet hat. Weiß nur noch – und der Zug kreuzt die Elbe zum wiederholten Mal, über eine stählerne Brücke mit geschwungenen Bögen rattern wir und nähern uns –, dass das eine besonders schöne Schießbude war. Ich habe eine solche Schießbude noch nie gesehen auf meinen Reisen über die Rummelplätze. Ich habe Angst, dass sie verschwinden aus
den Städten, weil keiner mehr hingeht. Ich lehne mich über die Theke, presse den Kolben der Flinte gegen meine Schulter. Ich ziele auf das Gebirge aus silbernem Metall. Kleine Berge, große Berge, Hänge und Täler. Und auf den Bergen und in den Tälern erscheinen KLACK KLACK KLACK ruckartig und sofort wieder verschwindend verschiedene Tiere, Jagdwild, Gemsen, Rehe, Hirsche, Hasen und sogar Vögel über den Gipfeln. Silbern glänzen sie, und ich rücke meine Brille zurecht und schieße sie ab. DING DING DING . Fünfundzwanzig Schuss, vierundzwanzig Treffer sagt mir eine Anzeige, die aus Hunderten kleiner Lämpchen besteht und jeden Blattschuss registriert, und der Mann in der Bude erzählt mir, dass dieses Gebirge aus den sechziger Jahren stammt. Und dann laufe ich weiter den leeren Boulevard entlang, die Taschen meines Mantels sind vollgestopft mit kleinen Plüschteddys, Schlüsselanhängern, Kugelschreibersets, Spielkarten und einem winzigen Billardtisch, der höchstens als Schreibtischdekoration taugt. Fünfundsiebzigmal hab ich geschossen und mindestens siebzigmal getroffen, ich könnte einen eigenen Ramschstand aufmachen, aber ich bin fast allein, der Herr dieses Rummels, nur ein paar Kinder und zwei dicke Frauen kommen mir entgegen. Ich fange zwanghaft an zu fressen, will alle Leckereien ausprobieren, stopfe panierte Blumenkohlstückchen, Bratfisch, Schmalzgebackenes, Currywurst mit Pommes Frites, Schokoäpfel am Stiel, Pilzpfannen, Spezial-Hotdogs, Magenbrot, Schokonussbarren und einen Erdbeersahne-Shake, in dem der Löffel steht wie in Beton, in mich hinein, ich habe Angst, dass eines Tages die Rummelplätze verschwinden aus den Städten. Und immer wieder stolpere ich durch diese Gassen, FRISCHES PILS , FRISCHES PILS , die Musik weht vorwärts, rückwärts mit dem Regen
in mein Gesicht und in meinen Nacken, mein Wägelchen kracht durch die Türen der Geisterbahn, im DISCOFEVER -Karussell verdaue ich in Sekunden, und dann stehe ich wieder vor dieser angelehnten Tür, ERFAHREN SIE IHR SCHICKSAL .
    Und ich steige aus dem Zug, Hauptbahnhof, und meine Arme baumeln kraft- und nutzlos und zum Glück gepäcklos mal in Hüfthöhe, mal auf Kniehöhe, alle Energien hat sie mir ausgesaugt, MADAME L , kräftig und gesättigt wird sie in ihrem Wohnwagen sitzen, während die Stadt M mich aufnimmt wie ein trockener Schwamm einen Wassertropfen; es muss gegen Mittag sein, und ich taumele durch den Tunnel, in dem es von Wochenendmenschen summt, Frühjahr, Sommer, Herbst 2009 , zu einer der Bänke auf dem Bahnhofsvorplatz. Die Leute werden denken, ich wäre betrunken, dabei habe ich nur Kaffee bestellt im
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher