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Gewalten

Gewalten

Titel: Gewalten
Autoren: Clemens Meyer
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nachdrücklich protestiert. Der aber stampfte als unbekümmerter Götze über ihn hinweg.
Am selben Tag sah ich Polizisten, schwarz gekleidet, Symbole auf den Rücken, Quadrate, Kreise, Dreiecke, die durch die Menge brachen, weil sie jemanden
kriegen
wollten, ein Mann wird weggeschubst, dreht sich um, hebt einen Arm in erschrockener Abwehr, BUMM liegt er, drei, vier Mann auf ihm drauf ... ach, diese Spiele. Aber auch bei den Bullen, da gibt’s, wie überall im Leben, »so ’ne und solche«, wie mein Großonkel Fredie immer sagte.
    Ich fahre mit dem Fahrrad nach Hause. Da ich nicht entlang kann, wo ich entlang will, fahre ich neben dem Fluss durch den Wald. Ich nehme eine Abkürzung, so glaube ich zumindest, schattig im Dickicht, im Auenwald, das Wehr rauscht hinter mir. Ich muss abbremsen, denn es hängt etwas in Kopfhöhe in der Mitte des Weges an einem weißen Faden. Das pulsiert und schimmert blau. Ich fahre sehr langsam drauf zu. Strahlen, fächerförmig durch meinen Kopf.
    Tribüne, Alfred-Kunze-Sportpark, 20   000 Zuschauer, Bauchspieß und Scherbarth wirbeln unten auf dem Rasen, und, heilige Scheiße, der alte Alfred Kunze, unser Urvater, unsere Legende, steht persönlich an der Seitenlinie! »Keiner wird es wagen, keiner wird es wagen, unsre BSG zu schlagen, keiner wird es wagen ...«
    Tribüne, Paris Longchamp, Prix de l’Arc de Triomphe. Unser deutscher Galopper
Wüstenfuchs
kämpft sich nach vorne, 500  Euro hab ich in seine Satteltaschen gepackt, Sieg!, Sieg!, Sieg!, und ich brülle mir die Seele aus dem Leib in diesen Handlungssträngen meines Albtraums.

Die Stadt M
    Ich fahre durch die ostdeutschen Provinzen. Kann den Monat nicht festlegen, Frühjahr, Sommer, Herbst 2009 , bis jetzt jedenfalls, und ich fahre in die Stadt M.
    Das ist eine vergessene Stadt, mitten in der Börde, einer welligen, fast baumlosen Landschaft, einer großen, weitgestreckten Moräne aus der Saale-Eiszeit. Die Elbe kreuzt der Zug immer wieder und andere kleinere Flüsse und Kanäle. Wenn man Augen hätte wie dieser Mensch aus dem Märchen (gut schießen konnte der, und schnell laufen der andere, und einen gewaltigen Rucksack hatte ein weiterer der Freunde), könnte man den Harz sehen, links in Fahrtrichtung. Es regnet kaum hier, ein trockener Wind weht ganzjährig übers Land, das im Regenschatten der Harzberge liegt. Ich habe von den Bördebauern gelesen, die diese dunkle Erde lieben und ihre Hände tief in sie tauchen, weil sie so fruchtbar ist, auch wenn der Regen nicht fällt in der Moräne, ein Naturparadox, aber die vielen Flüsse, und die Sonne scheint seltsam blass hier, neblige Wolken hängen am Harz.
    Und ich fahre in die vergessene Stadt M. Die Landesregierung hat dort ihren Sitz, aber ich habe noch keins der
Ministerien gesehen, als ich dort war. Man hört und liest nicht viel über diese Stadt, tief versteckt in der ostdeutschen Provinz. Bis Hannover ist es nicht weit, und auch bis Bielefeld, vielleicht zwei Stunden, in den alten Bundesländern, den westdeutschen Provinzen, machen sie Witze über die Stadt Bielefeld, sagen sie sei
leer
, menschenleere Straßen, unbewohnte Häuser, deren Fassaden große Schablonen seien, eine flache Betonperipherie, aber ich konnte das nicht begreifen, als ich einmal dorthin kam auf meinen Reisen. Das muss im Herbst gewesen sein, 2008 , denn als ich ankam, war es bereits dunkel. Die Innenstadt ist gleich hinterm Bahnhof. Ein schmaler Boulevard, Kaufhäuser und Läden links und rechts. Ständig stieß ich gegen Menschen, ein Kommen und Gehen, mehrspurig in beide Richtungen, Gleise im Pflaster anderer Straßen, die ich kreuzte.
Du sollst diese Stadt, die du nicht kennst, erforschen.
Ich weiß nicht, wie ich zu diesem Rummelplatz kam. Ich trug einen dicken, kratzigen Pullover, den hatte ich in einem der Kaufhäuser gekauft, weil es kalt war plötzlich, und ein feuchter Nebel auf dem Boulevard, so dass ich ständig gegen Menschen stieß. Hatte ich meine Tasche im Hotel gelassen?, ja, ich war ohne Gepäck. Ich reise nie mit viel Gepäck, meist nur eine Tasche. Selbst wenn ich auf andere Kontinente fliege (ich war erst auf einem fremden Kontinent), habe ich nur Handgepäck. Ich hatte süßen Punsch getrunken, um mich zu wärmen. Und war da nicht dieses Plakat?, direkt an dem Punschstand auf dem Boulevard, vor dem sich die Menschen stauten, weil es so kalt war und sie süßen Punsch trinken wollten.
    Am Eingang des Rummels stand ein kleiner Wohnwagen, die Tür angelehnt, und ein
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