Gewitter über Pluto: Roman
Stadträtinnen.«
»Und was genau ist das, ein Prolet?« fragte ich.
»Ein Bauer ohne Land«, antwortete Claire.
Jetzt hätte ich fragen können, was ein Bauer sei. Ein Trottel mit Land? Ich selbst kann auch nicht behaupten, eine
Vorliebe für die bäuerliche Kultur zu besitzen. Ein brutales Volk, brutal gegen
die Natur, brutal gegen Tier und Mensch. Meine Liebe gilt dem Kleinbürgertum.
Jedenfalls hatte ich meine Schwierigkeiten, mir ganz Wien als eine Hochburg
landloser Bauern vorzustellen.
Ich stand da und fühlte mich hilflos. Hilflos gerade dadurch, gar
nicht erst viel nachzudenken zu brauchen. Ich war ohne Wahl. Ich würde Botnang
aufgeben müssen, wahrscheinlich sogar Maritta â ein nur schwer erträgliches
Opfer, weil ja meine ganze gewagte Aktion vor allem darin begründet gewesen
war, diese Frau nicht verlassen zu müssen.
»Ich glaube«, sagte Claire, »ich rauche jetzt doch noch eine. Das
wird dieses Flugzeug schon aushalten. Am Ende der Zigarette, Soonwald, möchte
ich deine Entscheidung hören.«
»Pest oder Cholera. Leben in Wien oder Sterben in Botnang.«
»Richtig, Soonwald, die Wiener haben es irgendwie mit der Pest. Es
ist ihre historische Lieblingskrankheit. Sie werden ganz sentimental, wenn sie
über die Zeiten der Pest reden, die sie ja wegen ihres geringen Lebensalters
gar nicht haben miterleben können.«
Nun, das war ein ganz grundsätzliches Problem der Menschen: daà sie
vor allem im BewuÃtsein dessen existierten, was sie nie am eigenen Leib
erfahren hatten. Fast jeder in Deutschland und Ãsterreich schien sich noch
unter dem Eindruck der Nazizeit zu befinden, aber nur die wenigsten konnten
eine konkrete Erinnerung anführen. Leute fühlten sich schuldig oder betonten
umgekehrt ihre Unschuld, als wären sie leibhaftig Teil dieser Geschichte gewesen.
Andere pochten geradezu auf einer Opferrolle, als seien sie ihre eigenen
GroÃeltern. Manche Menschen wiederum beschrieben mit geradezu wehmütiger
Eindringlichkeit die Fünfzigerjahre, obwohl sie erst Anfang der Sechziger auf
die Welt gekommen waren. Einige taten so, als hätten sie die Malerei bei Gustav
Klimt erlernt und das Autofahren in einem Mercedes Silberpfeil. Für einen
uneingeweihten AuÃerirdischen mochte es so aussehen, als seien auch Menschen
langlebige Wesen, die höchstpersönlich ihre Tausendjährigen Reiche
durchwanderten. Doch in Wirklichkeit fuÃte fast das gesamte menschliche
BewuÃtsein auf einem nie gelebten Gestern und der schmerzlichen Unerfahrung
einer viel zu fernen Zukunft.
Claire rauchte. Die Barkeeperin wandte sich mit einem
tiefen Seufzen zu ihr hin.
»Schätzchen, bitte«, säuselte Claire. »Ersparen Sie mir die
Peinlichkeit, Ihnen zu erklären, wer ich bin. Und daÃ, wenn ich möchte, Sie
Ihren hübschen kleinen Hintern nie wieder in dieses Flugzeug hineinbekommen.«
Die Barkeeperin schloà ihre Augen wie unter dem Einfall jener Lampen
in Zahnarztpraxen, verdrehte wahrscheinlich hinter den Lidern ihre Augen und
kehrte uns blind den Rücken zu.
Ich sagte zu Claire: »Ihr Charme ist umwerfend, gnädige Frau.«
»Sehr schön, wie du das sagst: Gnädige Frau .
Du bist absolut zum Wiener geboren.«
Ja, da konnte sie sogar recht haben. Zumindest war es eine
erträgliche Vorstellung, daà mein Gang nach Wien nicht nur auf einem Befehl
basieren würde, sondern zudem eine innere Logik besaÃ, eine Wurzel, eine Formel,
eine GesetzmäÃigkeit, welche quasi physikalischen Ursprungs war.
Ich wartete noch einen Augenblick, wie der Schlaflose auf das Läuten
des Weckers wartet, dann nickte ich. Das genügte. Claire lachte kurz und
lautlos, drückte ihre Zigarette aus und rutschte in einer vollendeten Drehung â
ein kleines Gedicht ihrer aus der Verschränkung sich lösenden Beine, wie von
Stefan George â vom Hocker.
Sie wies mich an, spätestens in drei Wochen in Wien zu sein. Wobei
sie es gerne sehen würde, könnte ich meine Frau überzeugen, mitzuziehen.
Alleinstehende Männer seien immer ein wenig schwierig, tendierten zur
Lausbüberei, zu UnmäÃigkeiten und Momenten der Einfalt. Eine präsente Ehefrau
sei bestens geeignet, selbst noch im Streit, einem Mann den nötigen Halt zu
geben.
Das war ein Punkt, in dem ich meiner zukünftigen Chefin absolut
beipflichtete.
So gingen wir also beinahe einträchtig
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