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Gewitter über Pluto: Roman

Gewitter über Pluto: Roman

Titel: Gewitter über Pluto: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich Steinfest
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die Herkunft dieses Steins. Darüber
schwieg sich Rorschach beharrlich aus. Ebenso verweigerte er eine Antwort auf die
Frage, wie es möglich sein konnte, daß eine mindestens zweihundert Millionen
Jahre alte Ziffernfolge mit einer neuzeitlichen Numerierung zusammenpaßte. Denn
schließlich ergab sich die 134340 aus der schlichten Einreihung des Explaneten
Pluto in die lange Liste des offiziellen Kleinplanetenkatalogs. Es war also ein
banaler, wenn auch von der Boshaftigkeit der Internationalen Astronomischen
Union getragener bürokratischer Akt, der auf rätselhafte Weise bereits in einer
Zeit, da noch nicht einmal der Archaeopteryx existiert hatte, in einen Stein
gemeißelt worden war. Doch genau dieser Sonderbarkeit war es zu verdanken, daß
der Verdacht, es handle sich um eine Fälschung, von den meisten Menschen
ausgeschlossen wurde. Denn man konnte sich nun mal nicht vorstellen, daß jemand
so dumm gewesen war, eine derartige Ungereimtheit zu riskieren. Nein, gerade
dieser märchenhaft dubiose Umstand schien die Plausibilität zu verstärken.
Bestätigte die Realität einer Zahl, die von Beginn an existiert hatte und
welche ganz sicher mehr bedeutete als bloß eine fortlaufende Nummer in einem
ziemlich dicken Verzeichnis.
    So war es also gekommen, daß man mit dieser Zahl den Namen Rorschach
unauflöslich verband, ja von der Rorschachzahl sprach. Und es gab eine Menge
Leute, die sämtliche Hebel in Bewegung setzten, diesen Mann aus dem Gefängnis
zu bekommen. Mord hin oder her, es gab Wichtigeres als Schubert-Sängerinnen.)
    Natürlich diskutierten auch die Gäste, die gerade im Prinzipal saßen, das Ereignis, gaben sich dabei aber
gelassen und zugleich ein wenig skeptisch. Immerhin war man ja vor einigen
Jahren den Amerikanern wegen der Mondsache auf die Schliche gekommen. Ein
langgehegter Verdacht hatte sich bestätigt. Der amerikanische Präsident war
gezwungen gewesen, zuzugeben, daß die erste Mondlandung gewissermaßen ein
künstlerisch-cineastisches Geschenk der NASA an Kennedy gewesen war, ganz
nach dem Motto: Was wir wollen, können wir auch filmen.
    Jedenfalls hielt sich zumindest im Prinzipal an diesem Abend die Aufregung ob der taufrischen Plutobilder noch in Grenzen.
    Es war kurz vor neun, als Lorenz Mohn das Lokal betrat. Er
trug einen schwarzen Anzug, in dem er so schlank und leichtgewichtig und
gleichzeitig stabil wirkte wie diese Radrennfahrer, die in die Wirtschaft
wechseln. Einer der beschürzten Kellner trat auf ihn zu, allerdings von der
falschen Seite her, sodaß eine kleine Weile verging, bevor Lorenz im Zuge einer
gedankenlosen Schwenkung seines Kopfes den jungen Mann wahrnahm und dessen
bereits zum wiederholten Male vorgetragene Frage nach einer Reservierung
beantwortete.
    In der Folge wurde Lorenz an einen kleinen Tisch im rückwärtigen
Teil des vollbesetzten Lokals geführt, nahe einer in viele kleine Fenster
unterteilten Trennwand. Dahinter befand sich ein Extraraum, der einen einzelnen
großen Tisch beherbergte und jenseits dessen der Innenhof lag, in welchem immer
wieder mal die rauchende Küchenhilfe zu beobachten war.
    Lorenz nahm Platz und erkundigte sich – offensichtlich in Kenntnis
der hiesigen Gepflogenheiten – nach dem Tagesgericht, das im Prinzipal immer zugleich als Abend- und Nachtgericht
fungierte.
    Â»Rehrücken«, sagte der Kellner mit einer plötzlichen Traurigkeit in
seiner Stimme, als wollte er sagen: »Das Reh war zum Schluß schon sehr krank.«
    Doch selbst kranke Rehe können gut schmecken, wenn die Köchin sie
zuzubereiten weiß.
    Lorenz nickte und bestellte zum Essen eine Flasche Weißwein. Er sah
sich in keiner Weise verpflichtet, diesen Abend, was auch immer ihm selbiger
abverlangen würde, in nüchternem Zustand zu überstehen.
    Der Kellner verschwand mit einer affektierten Grazie. Die Schürze
vor seinem Unterleib und seinen Beinen verblieb dabei vollkommen faltenlos.
    Lorenz blickte sich um. Er war der einzige Gast, der alleine saß. Um
ihn herum herrschte die Lebendigkeit einer vom grandiosen Rehrücken gestärkten,
ja inspirierten gesellschaftlichen Prominenz. So sah er etwa eine bekannte
Schauspielerin, die wie eine mächtige weiße Kerze aus dem Kreis ihrer
Bewunderer herausstach. Dort einen Politiker, dem nachgesagt wurde, er gehe
über Leichen, das aber ausgesprochen versiert. Ein Vibrieren war im Raum. Eine
Rotwangigkeit

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