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Gewitter über Pluto: Roman

Gewitter über Pluto: Roman

Titel: Gewitter über Pluto: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich Steinfest
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der Gespräche und Gefühle.
    Lorenz selbst hingegen fühlte sich deplaziert, obwohl seine Gestalt
und Erscheinung perfekt in das noble Ambiente paßten. Ja, er mutete wie jemand
an, der Abend für Abend an diesen Ort kam und dessen Alleinsein ein gewolltes
war. Ein schöner Mann, der gleich einem monolithischen Grabstein eine kleine,
intime Sphäre beherrschte und dessen Schönheit pur und unkommentiert blieb.
Denn was wäre zum Beispiel eine aufregende Frau an seinem Tisch anderes gewesen
als die Bestätigung seiner Aura? So, als wollte man einen Spiegel bespiegeln
oder einen Teich gießen.
    Nein, so, wie er hier saß – ganz für sich, gewissermaßen unbefleckt –, strahlte er eine kafkaeske Würde aus. Und damit ist nicht gemeint, daß er an
einen hilflosen Käfer oder verwirrten Antragsteller erinnerte, sondern vielmehr
die Vorstellung eines in seiner Einsamkeit und Schwermut perlenartig
verankerten Jahrhundertgenies erfüllte.
    Mit ebendieser Würde aß er, trank er, bestellte Kaffee und verbarg,
daß er wartete. Darauf wartete, ein Leben zu retten und seine Schuld zu
begleichen.

26  |  Afrika
    Ist es bloß Ähnlichkeit?
    Es geschieht, als ich gerade eben an der alten Wirtshaustheke stehe
und mich mit einem berühmten Arzt unterhalte, der sich im Alter zum
Naturheilkundler und Hobbyschamanen gewandelt hat. Die im Alter Gewandelten
sind immer die schlimmsten, absolute Radikalinski, verstehen keinen Spaß und
wollen eine unrettbare Welt retten. Wenn sie Raucher werden, verpesten sie
alles mit ihrem Rauch, wenn sie Nichtraucher werden, alles mit ihrem
Nichtrauch.
    Während also der Herr Primar – so nennen sie hier ihre Chefärzte –
von Energieströmen und Staudämmen und der ganzen körpereigenen Wasserwirtschaft
palavert, bemerke ich den Mann, der in diesem Moment zur Türe hereinkommt und
nun etwas verloren im Eingangsbereich steht. Boris, einer unserer
pseudoschwulen Kellner, tritt an ihn heran. Aber es sieht so aus, als würde der
neue Gast Boris gar nicht wahrnehmen, vielmehr schaut er an Boris vorbei in den
Raum hinein. Boris wartet.
    Wenn ich nicht ganz falsch liege – mein Gott, wie gerne würde ich
jetzt falsch liegen! –, dann ist dieser Mann derselbe, der schlafend in genau
jenem Bett gelegen hatte, das mir als das passende erschienen war, um darunter
die Leiche des Bäckers Nix zu verstauen. Damals vor…eine ganze Menge
Jahre ist das jetzt her, jedenfalls war ich zu dieser Zeit das erste Mal in
Wien gewesen, nicht ahnend, wie sehr diese Stadt in Zukunft mein Leben
bestimmen sollte.
    Ich denke oft an Botnang. Dort war ich geborgen. Echt geborgen.
Nicht wie hier, wo ein Gefühl der Geborgenheit allein daraus hervorkeimt, daß
jemand anders sich nicht geborgen fühlt. Das Glück in
Wien ist zutiefst asozial. Jede Freude, jeder Erfolg bedingt die Trauer und den
Mißerfolg eines anderen Menschen. Fast wie bei einem Naturgesetz oder einer
mathematischen Gleichung. Was logisch dazu führt, daß keiner die eigene Bösartigkeit
als solche empfindet, sondern bloß als ersatzloses Mittel zum eigenen Glück.
Die Leute behaupten: »Würde es mit Liebe gehen – gerne, sofort! Aber es geht
nun mal nicht mit Liebe.«
    Keine Frage, auch anderswo sind Menschen böse und eitel und hinterlistig,
sogar im vom Gott gesegneten Land der Schwaben oder auf der Insel Titiwu, doch
an keinem Platz der Welt mit einer solchen Selbstverständlichkeit wie in Wien,
ja man könnte sagen: Kultiviertheit. Anderswo trifft man den Teufel im
Hinterzimmer, im Geheimbund, im Bereich der inoffiziellen Zirkel, hier aber
sitzt er mit allen am Tisch, beim Frühstück wie beim Abendessen, nicht nur als
Gast, sondern als Mitglied der Familie. Familie ist Schicksal, postuliert der
Wiener und meint ergänzend: Den Teufel kann man sich nicht aussuchen.
    Aber auch wenn das so ist, und es ist so, darf ich mich dennoch
nicht beschweren. Meine Position in dieser Stadt ist exzellent. Die Leute
achten mich, als wäre ich selbst der Teufel. Dabei führe ich lediglich ein
Restaurant. Allerdings eines mit dem Status eines Tempels, und zwar nicht bloß
eines Freßtempels. Man könnte meinen, unter dem Wirtshausboden sei der Wurm
aller Würmer begraben und als würden die besseren Leute sich noch viel, viel besser
fühlen, waren sie erst einmal in der Nähe dieses begrabenen Wurms.
    Als Boris

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