Gezeitengrab (German Edition)
Sie damit andeuten?»
«Archie Whitcliffe wurde erstickt», sagt Nelson erbarmungslos. «Ich glaube, beide Männer wurden vom selben Täter umgebracht.»
«Archie? Erstickt? Das glaube ich Ihnen nicht.»
«Obduktionen lügen nicht», sagt Nelson, obwohl das keineswegs immer der Wahrheit entspricht.
Sie schweigen beide. Hinter den Fenstertüren sieht Nelson das Meer, strahlend blau unter dem blasseren Himmel. Ein Boot mit weißem Segel treibt langsam am Horizont entlang.
«Detective Chief Inspector.» Stella ist kreidebleich, doch in ihrer Stimme liegt nicht einmal ein leichtes Zittern. «Soll ich das alles so verstehen, dass Sie ein Mitglied meiner Familie verdächtigen, diese abscheulichen Verbrechen begangen zu haben?»
«Ich verdächtige niemanden und jeden», antwortet Nelson großspurig.
«Was soll das heißen?»
«Irgendwer hat diese Männer umgebracht, und ich glaube, es ging darum, Buster Hastings’ Andenken zu bewahren. Das gilt auch für Dieter Eckhart. Er war im Begriff, die Wahrheit aufzudecken. Ich glaube, er wurde getötet, um das zu verhindern.»
Stella starrt ihn an, die Hände immer noch fest um die Sessellehnen geklammert. Irgendwo klingelt ein Wecker, und sie zucken beide zusammen. Stella Hastings schaut auf die Uhr.
«Ich muss nach Mutter sehen. Bitte entschuldigen Sie mich, Detective Chief Inspector. Es wird nicht lange dauern.»
Sie geht hinaus. Allein zurückgeblieben, tritt Nelson ans Fenster und schaut über die Bucht zum Leuchtturm hinüber. Vor ihm steht die Reihe Topfpflanzen, und plötzlich fällt ihm auf, dass eine davon in den Helm eines deutschen Soldaten gepflanzt ist.
Ruth ist froh, dass sie sich dazu durchgerungen hat zu kommen. Es ist ein schöner Nachmittag, das Meer glitzert in der Sonne. Am Strand liegt kein Schnee mehr. Fast könnte man meinen, es wäre ein Sommertag – wenn da nicht die beißend kalte Luft wäre, die ihr fast den Atem nimmt und sie wünschen lässt, sie hätte einen Schal mitgenommen.
Craig wartet unten am Hang auf sie. Er trägt eine warme Filzjacke und eine schwarze Wollmütze.
«Wo ist Ted?»
«Der musste zurück. Irgendwelche Probleme daheim. Ich habe ihm gesagt, ich warte hier auf dich.»
«Das ist nett von dir.»
Während sie hinter Craig über den Strand geht, denkt Ruth darüber nach, was für Probleme Ted «daheim» denn haben kann. Soweit sie weiß, ist er nicht verheiratet und lebt auch mit niemandem zusammen. Er gibt sich geheimnisvoll. Ted der Ire. Einmal hat er ihr sogar gestanden, dass er eigentlich gar nicht Ted heißt.
Sandra war gerne bereit, Kate noch eine Stunde länger bei sich zu behalten. «Gar kein Problem, Ruth. Machen Sie sich nicht immer so viele Sorgen.» Aber Ruth macht sich nun mal Sorgen. Tatjanas Vorwürfe haben sie wund und verletzt zurückgelassen. Sie hat noch zweimal versucht, Tatjana anzurufen, doch sie ist nicht ans Handy gegangen. Ist Ruth wirklich so eine schlechte Mutter? Sie liebt Kate mehr als ihr Leben, aber womöglich reicht das ja nicht. Auf jeden Fall fällt ihr das Muttersein nicht so leicht wie beispielsweise einer Frau wie Michelle. Sie weiß einfach nicht, was sie mit Sandra und den anderen Müttern reden soll – ein einziger qualvoller Vormittag bei einer Mutter-Kind-Gruppe hat ihr das zur Genüge gezeigt. Sie hat keine Ahnung, welche Babynahrung man kaufen, welchen Kindersitz man auf jeden Fall vermeiden soll. Sie hat keine einzige Elternzeitschrift gelesen und nie die Supernanny geschaut. Kate und sie müssen sich alles aus der jeweiligen Situation heraus erarbeiten. Und bisher hatte sie das Gefühl, dass das auch ganz gut funktioniert. Bis zu dem Gespräch mit Tatjana.
Dabei hat Tatjana selbst ihre Probleme. Ruth weiß das genau, und trotzdem schreckt sie davor zurück, sich einmal richtig mit ihrer Freundin zu unterhalten. Gelegenheiten gab es in den letzten Wochen mehr als genug, doch sie war zu feige, sie zu ergreifen. Morgen fliegt Tatjana zurück nach Hause, und sie sehen sich vielleicht niemals wieder.
Craig und sie haben Broughton hinter sich gelassen und überqueren jetzt den Strand, wo die Fässer lagen. Es ist Ebbe, vor ihnen erstrecken sich zahllose kleine Tümpel, und Ruth kann die Überreste des viktorianischen Deiches erkennen, der sich wie ein grün verschleimtes Ungeheuer aus dem Wasser erhebt. Doch irgendetwas, der Wind vielleicht oder das wilde Kreischen der Möwen, sagt ihr, dass die Flut bald einsetzen wird. Sie müssen auf der Hut sein. Von diesem Strand führt
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