Gezeitengrab (German Edition)
Uhr; wenn alles gutgeht, wird sie jetzt einen Großteil der Nacht durchschlafen.
Tatjana setzt sich ihr gegenüber hin und mustert sie so eingehend, dass es Ruth fast peinlich ist. Zu groß ist der Kontrast zwischen Tatjanas eleganter Kleidung und ihrer perfekten Frisur und Ruths zerknitterter, milchverschmierter Erscheinung.
«Ich sehe furchtbar aus», sagt sie und erwidert Tatjanas Blick.
«Du siehst toll aus», erwidert Tatjana. «Du hast dich kein bisschen verändert.»
Ruth weiß, dass das nicht stimmt. Sie ist älter, dicker und unglücklicher als damals. Aber es ist ihr schon häufig aufgefallen, dass die meisten Leute glauben, man hätte sich nicht verändert, wenn man einfach nichts für sich tut. Und außerdem glauben sie, man würde sich nicht für Äußerlichkeiten interessieren.
«Ich bin vierzig», sagt sie.
Tatjana verzieht das Gesicht. «Ich auch.» Unvermittelt streckt sie die Hand aus und streicht Kate übers Haar. «Das ist alles schon so lange her, nicht? Bosnien.»
Es ist tatsächlich lange her, doch gleichzeitig kommt es Ruth vor wie gestern. Sie braucht nur die Augen zu schließen, dann sieht sie das Hotel vor sich, hört Erik bei Kerzenschein Geschichten erzählen, sieht Tatjana mit einer Waffe in der Hand im Dunkeln stehen. Aber egal, was passiert, sie dürfen unter keinen Umständen über Bosnien reden.
Und deshalb erzählt Ruth Tatjana von den Toten aus Broughton Sea’s End.
Tatjanas Sohn Jakob war tot. Ruth war froh, dass Tatjana ihr das gleich als Erstes gesagt und sie damit vor einem unpassenden Kommentar der Sorte: «Ach, ich wusste ja gar nicht, dass du einen Sohn hast – wie alt ist er denn?» bewahrt hat. Das hätte alles nur noch schlimmer gemacht. Als ob es nicht schon schlimm genug gewesen wäre. Damals, im Sommer 1995, wusste Ruth noch nicht, wie es ist, ein Kind zu haben, ein Kind zu verlieren … Letzteres ist nach wie vor unvorstellbar. Sie erinnert sich noch, wie sie dort unter den Pinien saß, im wahrsten Sinne des Wortes starr vor Schreck, und einfach nicht wusste, was sie sagen sollte. Ihre bisherige Lebenserfahrung hatte sie auf einen solchen Moment nicht vorbereitet. Dabei waren ihre Eltern doch Fachleute für Tod und Jenseits. Sie hätten gewusst, was sie sagen sollten: «Wir beten für dich. Bestimmt ist er jetzt im Himmel mit all den anderen kleinen Engeln.» Doch so etwas brachte Ruth nicht über die Lippen. Sie glaubte nicht an Gott, erst recht nicht an einen, der ein Kind sterben ließ, nur um einen weiteren kleinen Engel zu bekommen. Was sagte man einer jungen Frau, die so alt war wie man selbst und ihr Kind verloren hatte?
Da war es gewissermaßen ein Glück, dass Tatjana anscheinend gar keine Erwiderung von Ruth erwartete. Ruhig, fast schon kalt, erzählte sie die ganze Geschichte. Tatjana hatte jung geheiratet, ihr Mann war ebenfalls Akademiker und unterstützte sie in ihrer Karriere, was für einen Jugoslawen zu der Zeit beileibe nicht selbstverständlich war. Ruth erinnert sich bis heute an Tatjanas Miene, als sie das Wort «Karriere» aussprach. Auch als Jakob kam, trieb sie ihre Forschungen weiter und arbeitete halbtags an der Universität. Und als der Kleine zwei war, bot sich ihr die Chance, an der Johns Hopkins University zu promovieren. Ermutigt von ihrem Mann, ließ Tatjana Jakob bei ihren Eltern und ging nach Amerika. Während sie fort war, brach der Krieg aus.
«Mein Mann ist schon sehr bald gestorben. Er war mit einem Lastwagenkonvoi unterwegs, um Verletzte aus Mostar zu bergen. Sein Wagen wurde von einer Granate getroffen. Ich wollte meine Eltern und Jakob zu mir in die USA holen, aber dann hörte ich, dass ihr Dorf ebenfalls angegriffen worden war. Ich konnte nichts in Erfahrung bringen, bin halb verrückt geworden. Schließlich bin ich auf dem Landweg dorthin, eine albtraumhafte Reise. Das Dorf war komplett zerstört. Als hätte es nie existiert.»
«Aber bist du denn sicher, dass Jakob …»
Tatjana lachte. Bis heute hofft Ruth, ein solches Lachen nie wieder hören zu müssen.
«Ich habe eine der wenigen Überlebenden ausfindig gemacht. Sie sagte, sie hätte gesehen, wie Jakob und seine Großeltern erschossen wurden. Die einzige Frage ist jetzt: Wo ist seine Leiche?»
Im durchbrochenen Licht, das durch die Bäume fiel, sah sie Ruth an.
«Ich muss seine Leiche finden, Ruth. Du weißt doch, was Erik immer sagt. Man muss das Grab kennen. Das stimmt. Man muss die Toten sehen, sie begraben, um sie trauern. Sonst …» Ihre
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