Gezinkt
sagte Kitty. »Es ging alles so schnell. Ich habe ihn nicht einmal richtig gesehen.«
Norma Sedgwick lieferte einen ähnlichen Bericht des Vorfalls. Sie unterschieden sich in der Grüntönung des Jeeps, in der Körpergröße des Angreifers, in der Farbe seines Hemds.
Zeugen... Rhyme hatte nicht viel Vertrauen in sie. Selbst die ehrlichen bringen Dinge durcheinander. Sie übersehen etwas. Sie interpretieren falsch, was sie gesehen haben.
Er war ungeduldig. »Sachs?«
Er sah den Schirm ein bisschen wackeln, als sie seine Stimme hörte.
»Entschuldigen Sie«, sagte er zu Kitty und Sellitto. Die Szene verwackelte, als Sachs aus dem Wagen stieg und sich ein paar Schritte entfernte.
»Was ist, Rhyme?«
»Wir brauchen uns nicht damit aufzuhalten, was sie gesehen haben und was nicht. Ich will, dass der Schauplatz durchsucht wird. Jeder Quadratzentimeter.«
»Okay, Rhyme. Ich mach mich an die Arbeit.«
Sachs ging mit der gewohnten Sorgfalt das Gitter ab – so Rhymes Bezeichnung für die umfassendste, manche würden sagen zwanghafteste Methode, einen Tatort zu untersuchen. Ein Labortechniker aus Queens bearbeitete das gefundene Material im mobilen Labor der Spurensicherung. Aber das Einzige, was einen Bezug zum Mordfall Larkin aufwies, waren zwei weitere Kokosfasern wie die auf dem Balkon. Eine war in einen kleinen schwarzen Schnipsel gepresst, der aus einem alten, in Leder gebundenen Buch stammen konnte; Rhyme erinnerte sich an ähnliches Beweismaterial aus einem ein paar Jahre zurückliegenden Fall.
»Sonst nichts?«, fragte er verärgert.
»Nein.«
Rhyme seufzte.
Es gibt ein wohlbekanntes Prinzip in der forensischen Wissenschaft, das die Locard’sche Regel genannt wird. Sie wurde von dem Franzosen Edmond Locard, einem der Väter der Forensik, aufgestellt und besagt, dass es zwischen dem Täter und entweder dem Tatort oder dem Opfer einen unvermeidlichen Austausch von Spuren (er sprach von »Staub«) gebe.
Rhyme glaubte an die Locard’sche Regel. Es war das, was ihn dazu brachte, alle, die für ihn arbeiteten, und sich selbst so rücksichtslos anzutreiben. Wenn diese Verbindung, wie zart sie auch sein mochte, hergestellt werden konnte, ließen sich der Täter finden, das Verbrechen aufklären und zukünftige Tragödien verhindern.
Um diese Verbindung jedoch herstellen zu können, muss der Ermittler dieses Spurenmaterial finden, identifizieren und die Folgerungen daraus einordnen können. Im Fall Larkin war sich Rhyme dessen nicht sicher. Umstände mochten eine Rolle spielen – die Umgebung, Dritte, Schicksal. Oder der Mörder war einfach zu klug und gewissenhaft. Zu professionell, wie Fred Dellray bemerkt hatte.
Sachs nahm jeden Rückschlag persönlich. »Tut mir leid, Rhyme. Ich weiß, es ist wichtig.«
Er sagte etwas Beschwichtigendes. Keine Angst, wir sehen uns alles hier im Labor noch mal an, vielleicht ergibt sich bei der Autopsie etwas Brauchbares …
Aber er vermutete, dass seine Zuversicht in ihren Ohren unaufrichtig klang.
In seinen tat sie es jedenfalls.
»Alles in Ordnung?«, fragte Norma.
»Das Knie schmerzt. Als ich zu Boden ging.«
»Tut mir leid«, sagte die Agentin und musterte Kitty im Rückspiegel. Norma hatte hohe Wangenknochen und exotische, ägyptische Augen.
»Unsinn. Sie haben mir das Leben gerettet.« Allerdings war Kitty immer noch wütend. Sie verfiel in Schweigen.
Sie fuhren weitere zwanzig Minuten. Kitty bemerkte, dass sie viel im Kreis fuhren oder denselben Weg zurück. Sie wandte einmal den Kopf und sah, dass sie tatsächlich verfolgt wurden – nur war es dieses Mal ein ziviler Wagen der Polizei, der von der hoch gewachsenen Beamtin gesteuert wurde, deren Haar so rot war wie ihr eigenes, Amelia Sachs.
Normas Handy läutete. Sie griff danach, sprach und trennte die Verbindung.
»Das war die Polizistin hinter uns. Keine Spur von dem Jeep.«
Kitty nickte. »Und niemand hat das Nummernschild gesehen?«
»Nein. Aber es ist wahrscheinlich sowieso gestohlen.«
Sie fuhren weiter in ihrem zufälligen Muster. Sachs verschwand gelegentlich aus dem Blickfeld, fuhr eine Straße hinauf und eine andere hinunter, offensichtlich auf der Suche nach dem Jeep.
»Ich schätze...«, begann die Agentin.
Ihr Handy läutete. »Agent Sedgwick... Was?«
Kitty blickte beunruhigt in den Spiegel. Was war jetzt wieder? Sie hatte langsam genug von dem Nervenkitzel.
»Es ist Amelia«, meldete Norma. »Sie sagt, sie hat den Jeep gesehen! Er ist in der Nähe.«
»Wo?«
»Einen Block
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