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Gezinkt

Gezinkt

Titel: Gezinkt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jeffery Deaver
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plötzlich am Randstein anhielt.
    Was sollte das?
    Er stieg aus. »Ich muss nur rasch etwas erledigen. Bin gleich zurück.« Er zögerte. »Vielleicht solltest du lieber die Türen verriegeln.« Er ging zu einem baufälligen Haus, sah sich um und trat ein, ohne anzuklopfen. Marissa bemerkte, dass er die Wagenschlüssel mitgenommen hatte, und fühlte sich wie in der Falle. Sie fuhr gern Auto – sie hatte einen silbernen Maserati -, und die Beifahrerrolle behagte ihr nicht. Sie beschloss, seinem Rat zu folgen, und überprüfte, ob die Türen versperrt waren. Als sie auf der Fahrerseite nachschaute, sah sie zwei Jungen, Zwillinge, etwa zehn Jahre alt, reglos auf der anderen Straßenseite stehen. Sie sahen sie an, ohne zu lächeln. Einer flüsterte etwas. Der andere nickte ernst. Sie schauderte bei dem beunruhigenden Anblick.
    Als sie sich dann wieder umdrehte, stockte ihr vor Schreck der Atem. Das totenschädelartige Gesicht einer alten Frau starrte durch das Beifahrerfenster des Audi, vielleicht dreißig Zentimeter entfernt von ihr. Die Frau musste krank und dem Tod nahe sein.
    Durch das halb offene Fenster fragte Marissa: »Kann ich Ihnen helfen?«
    Die knochendürre Frau trug schmutzige, zerrissene Kleidung. Sie schwankte unsicher auf ihren Füßen. Die gelben Augen blickten rasch über die Schulter, als hätte sie Angst, gesehen zu werden. Dann betrachtete sie das Auto, das sie anscheinend kannte.
    »Kennen Sie Antonio?«, fragte Marissa und beruhigte sich allmählich.
    »Ich bin Olga. Ich bin die Königin der Via Magdalena. Ich kenne jeden...« Ein Stirnrunzeln. »Ich wollte Ihnen mein Beileid aussprechen.«
    »Wozu?«
    »Na, zum Tod Ihrer Schwester natürlich.«
    »Meiner Schwester? Ich habe keine Schwester.«
    »Sie sind nicht Lucias Schwester?«
    »Ich kenne keine Lucia.«
    Die Frau schüttelte den Kopf. »Aber Sie sehen ihr so ähnlich.«
    Marissa ertrug es kaum, in die feuchten, gelbsüchtigen Augen der Frau zu blicken.
    »Entschuldigen Sie, dass ich Sie gestört habe«, sagte Olga und wandte sich ab.
    »Warten Sie«, rief Marissa. »Wer war sie, diese Lucia?«
    Die Frau hielt inne. Dann beugte sie sich zum Fenster hinunter und flüsterte: »Eine Künstlerin. Sie fertigte Puppen. Aber ich rede nicht von Spielzeug. Es waren Kunstwerke. Sie machte sie aus Porzellan. Die Frau war eine Zauberin. Es war, als könnte sie menschliche Seelen einfangen und in ihre Puppen verpflanzen.«
    »Und sie ist gestorben?«
    »Letztes Jahr, ja.«
    »Woher kannten Sie sie?«
    Olga warf noch einen Blick auf das Gebäude, in das Antonio gegangen war. »Verzeihen Sie, wenn ich Sie gestört habe. Ich habe mich geirrt, wie es scheint.« Dann humpelte sie fort.
    Einen Augenblick später kam Antonio mit einer kleinen, grauen Papiertüte zurück und legte sie auf den Rücksitz. Er sagte nichts über das, was er zu erledigen gehabt hatte, außer dass er sich entschuldigte, weil es länger als geplant gedauert habe. Als er sich in den Fahrersitz fallen ließ, sah Marissa an ihm vorbei auf die andere Straßenseite. Die Zwillinge waren verschwunden.
    Antonio legte den Gang ein, und sie brausten los. Marissa fragte ihn nach der alten Frau. Er blinzelte überrascht. Nach kurzem Zögern lachte er. »Ach, Olga... die ist verrückt. Nicht ganz richtig im Kopf.«
    »Kennst du eine Lucia?«
    Antonio schüttelte den Kopf. »Hat sie das behauptet?«
    »Nein, aber... Es kam mir vor, als würde sie mir von ihr erzählen, weil sie dein Auto erkannt hat.«
    »Also, wie gesagt, sie ist verrückt.«
    Antonio verstummte und fuhr auf gewundenen Wegen aus der Stadt hinaus, bis sie schließlich auf die A 7 kamen. Dann bog er nach Süden auf die SS 222 ab, die berühmte Straße durch das Chianti, die Weinbauregion zwischen Florenz und Siena.
    Marissa hielt sich an dem Griff über der Tür des Wagens fest, während sie durch Strada rasten, an dem zauberhaften Castello di Uzzano vorbei, dann durch Greve und in die kargere Region südlich von Panzano. Die Landschaft war wunderschön hier – aber sie hatte etwas Unheimliches an sich. Nicht allzu weit nördlich hatte das Ungeheuer von Florenz von Ende der Sechziger- bis Mitte der Achtzigerjahre mehr als ein Dutzend Menschen abgeschlachtet, und hier, im Süden, hatten zwei andere Verrückte vor gar nicht langer Zeit mehrere Frauen gefoltert und ermordet. Diese letzteren Mörder waren gefasst worden und saßen in Haft, aber ihre Taten waren besonders grausam gewesen und nicht weit von dort geschehen, wo sie sich

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