Ghetto-Oma: Ein Leben mit dem Rücken zur Tafel
beiläufig in die Runde.
Das schlägt ein wie eine Bombe!
Schockstarre!
Achtzehn Augenpaare sind auf mich genagelt.
«Handys abgeben?»
«Warum das?»
«Niemals!»
«Tut mir leid, ist Vorschrift», sage ich sehr offiziell und deute auf eine große flache Ablage auf dem Pult. «Hier bitte reinlegen, die Handys!»
Handys abgeben – meine Kinderchen müssen sich erst an diesen ungeheuerlichen Gedanken gewöhnen. Handys abgeben – das geht gar nicht, das ist … wie … wie … wie nackig ausziehen, wie Nabelschnur durchschneiden von allem, was das Leben ausmacht!
Sehr zögernd kommen sie nach vorne und legen ihre Mobiltelefone fein nebeneinander in die Ablage. Aus Solidarität lege ich meins dazu. Natürlich hat es keinen Touchscreen, leider, und ich blicke neidisch auf die Handys meiner armen Schüler, die sich keine Schulbücher kaufen können – und wenn man die Handys sieht, weiß man auch, warum.
«Voll alt», sagt Hassan und zeigt auf mein bescheidenes kleines zweijähriges Gerät. «Voll die Telefonzelle, mit so was geh ich kämpfen … nein … Spaaaaaß, Frl. Krise!»
Nun drängeln sich alle ums Pult. Die Handys werden begutachtet und verglichen, man kennt sie zwar, aber so nett nebeneinander sieht man sie schließlich nicht alle Tage.
«Welches ist das schönste, Frl. Krise?», fragt Hanna, und ich zeige auf ein rosafarbenes Teil. «Meins!», ruft Hanna erfreut. «Das wussten Sie, oder?»
«Niemals», lüge ich.
Die Vergleichsarbeit? Ist gerade aus den Köpfen entschwunden. Fröhlich und stolz begutachten sie ihre Schätze, irgendwie süß. Mal wieder ganz im Hier und Jetzt!
«Ganz schön teuer, alle zusammen», stellt Fuat fest.
«Schluss jetzt!», rufe ich und klatsche in die Hände. «Leute, wir müssen anfangen, bitte alle hinsetzen.»
Zögernd trotten sie – wie aus einem schönen Traum erwacht – auf ihre Plätze. Die Tür geht auf, und Karl guckt herein. Er hebt die Hände und zeigt an, dass er allen die Daumen drückt.
«Voll süß!», sagt Gamze gerührt.
Dann geht’s los. Hundert Minuten. Ganz still und konzentriert werden die Bögen ausgefüllt. Die Arbeit ist leicht, und wenn sie schwer wäre, wäre es auch egal, weil es nur ein Probelauf ist. Erst im nächsten Jahr wird sie bedeutsam werden. Diesmal gilt sie nur so viel wie eine Klassenarbeit. Aber daran denkt (außer Erkan, der nicht alles ausfüllt – mal wieder zu mühsam) anscheinend niemand.
Aynur gibt als Erste und Emre als Letzter ab. Hinterher sind alle aufgekratzt und überdreht. Sie haben jetzt FREIFREIFREI und ziehen fröhlich von dannen. Chillen und shoppen, das hat man sich wohl verdient!
Nächstes Jahr um diese Zeit …
Ich seufze und gehe langsam die Treppe runter zum Lehrerzimmer. Nächstes Jahr um diese Zeit wird es dann wirklich ernst.
Das Tamagotchi
Das Tamagotchi, ein virtuelles Küken, war in gewisser Weise so etwas wie das Handy der neunziger Jahre. Telefonieren konnte man zwar nicht damit, aber auf andere Art und Weise hervorragend den Unterricht stören.
Das dumme japanische Tier, das in einem eiförmigen Elektrospielzeug wohnte, musste von seinem Besitzer nach dem Schlüpfen liebevoll und zeitaufwendig aufgezogen werden. Es wusste natürlich nichts vom geregelten Arbeits- und Pausenrhythmus einer mitteleuropäischen Schule und verlangte bevorzugt mitten im Unterricht nach Fressen, Trinken oder Zuwendung, und zwar lauthals. Wurde ihm dies alles verweigert, begann es zu kränkeln, und im schlimmsten Fall verschied es auf der Stelle. Die Kinder, die das Wesen schon tagelang liebevoll bemuttert hatten, waren entsetzt, traurig oder wütend. Es flossen Tränen, und der Unterricht lag brach.
Ein Versuch, die Tamagotchis zu verbieten, scheiterte. Immer wieder piepste es hier und dort. Bis – jedenfalls in meiner Klasse – Wanda auf den Plan trat.
Wanda, eine besonders engagierte und pfiffige Tamagotchi-Mama, suchte sich kurzerhand eine Nanny.
«Frl. Krise, mein Opa bringt mich jetzt immer und holt mich ab», vertraute sie mir an.
«Warum das denn?», fragte ich. «Du wohnst doch nur um die Ecke.»
Wanda strahlte und zeigte mir ihr gutgenährtes Tamagotchi-Kind.
«Wegen dem!», sagte sie. «Eigentlich bringt mein Opa mich auch nicht. Wir treffen uns nur vor der Schule. Dann nimmt er mein Tamagotchi und passt vormittags drauf auf. Und mittags gibt er es mir wieder.»
Es kam, wie es kommen musste: Am Ende hatte der Opa die Tamagotchis der halben Klasse in Pflege. Ich sehe ihn
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