Ghost Street
bedankte sich und kehrte ins Haus zurück. Mit ihr wehte ein kühler Windhauch in den Flur. Die Klimaanlage, sagte sie sich, denn draußen war es jetzt schon wieder drückend heiß.
Mit dem Päckchen lief sie in den ersten Stock zurück. Sie warf es aufs Bett und ging ins Bad. Nachdem sie ihre Haare geföhnt und zu einem lockeren Knoten gebunden hatte, zog sie sich an. Das dunkelblaue Kostüm, weil sie am späten Morgen vor Gericht erscheinen musste, die weiße Bluse mit den blauen Streifen, die Schuhe mit dem halbhohen Absatz. Als Staatsanwältin hatte man keine große Auswahl. Die meisten Richter waren konservativeKnochen und verzogen schon das Gesicht, wenn man im Hosenanzug daherkam. Das war für Alessa kein Problem, schließlich war man in vielen Berufen gezwungen, eine Uniform zu tragen, nicht nur in der Armee.
Ein eisiger Lufthauch zog durch ihr Badezimmer. Sie war gerade dabei, Make-up aufzutragen, und ließ vor Schreck beinahe den kleinen Pinsel fallen. Erschrocken blickte sie in den Spiegel. Von der Klimaanlage konnte der eisige Windhauch nicht kommen, die blies gemäßigte Luft durch die Lamellen neben der Dusche. Das Fenster war geschlossen, die Tür angelehnt. Sie zuckte die Achseln. Sicher die Nachwirkungen ihres unfreiwilligen Bades im Fluss. Es würde wohl noch einige Zeit dauern, bis sie die Erinnerung an diesen Morgen und den Anblick der Toten verdrängt hatte.
Nachdenklich ging sie ins Schlafzimmer. Sie schlug die Decken auf ihrem Bett zurück und hielt mitten in der Bewegung inne, als von unten seltsame Geräusche nach oben drangen. Kein Klopfen, eher ein leises Scharren, als würde ein Unbefugter durch die Wohnung schleichen. Sie blickte ins Treppenhaus und sah einen dunklen Schatten über die Wand streichen.
Sie war keine ängstliche Frau und schon gar nicht der Typ, der beim Anblick einer Maus oder einer Spinne hysterisch reagierte. Mit dem nüchternen Verstand, den sie als Staatsanwältin bei jeder Verhandlung einsetzen musste, sagte sie sich, dass ihr wahrscheinlich die Einbildung einen Streich spielte. Was denn auch sonst?
Die Geister, von denen Mrs Hunnicot erzählt hatte? Ihre Vermieterin, eine ältere Dame, lebte seit ihrer Geburt in Savannah und behauptete allen Ernstes: »In Savannah kommen die Toten nicht zur Ruhe. Hier hat es so viele Katastrophen gegeben, das Gelbfieber, eine Feuersbrunst, dieblutigen Kämpfe während des Bürgerkriegs. Wie können diese Toten jemals Ruhe finden? Wahrscheinlich dauert es Jahrhunderte, bis sie die Erinnerung an ihre schrecklichen Erlebnisse abschütteln und in die Ewigkeit eingehen können. Sie kommen aus Florida? Hüten Sie sich vor unseren Geistern, mein Kind, seien Sie nett zu ihnen, sonst ergeht es Ihnen wie dem jungen Ehepaar, das unsere Geister als Aberglaube abtat und nachts von den verärgerten Seelen heimgesucht und aus der Stadt vertrieben wurde.«
Alessa blickte aus dem Fenster und beobachtete, wie der Wind in den mächtigen Eichen rauschte. Das Spanische Moos, das wie dunkles Lametta von den Zweigen hing, schwankte träge und filterte das Sonnenlicht. Das erklärte die tanzenden Schatten in ihrem Schlafzimmer und im Flur. Auch dort gab es ein kleines Fenster. Aber woher kamen die seltsamen Laute?
Ohne Angst stieg Alessa ins Parterre hinab. Die Katze, fiel ihr ein, das war bestimmt die Katze. Sie hatte sich erholt und streunte durch den Flur und die Zimmer. Wie die meisten Gebäude in der Altstadt von Savannah stammte ihr Haus aus dem 19. Jahrhundert, ein zweistöckiges, in einem pastellfarbenen Blau bemaltes Holzhaus mit einer breiten Veranda vor dem Eingang. Savannah war die einzige Stadt, die während des Bürgerkriegs nicht von den Unionstruppen unter General Sherman niedergebrannt worden war, ein Grund dafür, warum so viele Touristen hierherkamen. In Florida hatte sie in einem modernen Apartmenthaus gewohnt.
Im Erdgeschoss gingen die Küche mit dem kleinen Vorraum, ein Wohnzimmer und ein Esszimmer von dem schmalen Flur ab, fast zu luxuriös für sie, doch sie verdiente gut und hatte sich auf Anhieb in das Haus verliebt.
Noch auf halber Treppe hörte sie, wie im Wohnzimmerder Fernseher anging. Das Geplapper einer morgendlichen Talkshow drang durch die angelehnte Tür in den Flur. Eine Autorin, die ihr neues Buch vorstellte. »Was, zum Teufel …«, fluchte sie leise, lief die letzten Stufen im Eilschritt hinunter und betrat das Wohnzimmer.
In einem Fernsehkrimi wäre jetzt eine dunkle Gestalt hinter der geöffneten Tür
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