Ghost Street
Middleton stiegen die Tränen in die Augen, als er die Lügen las. Nicht einmal nach vierzig Jahren wurde Jeremy Hamilton für diesen Mord verurteilt, aus Mangel an Beweisen, wie der Staatsanwalt behauptete, obwohl doch eindeutig bewiesen war, dass Jeremy Hamilton in den Sechziger- und Siebzigerjahren federführend im Klan gewesen war. Nur für den Mord an Helen Rydell hatten sie ihn verurteilt, und das auch nur, weil Melinda Stone im Fernsehen ständig Druck gemacht hatte. Der Staatsanwalt hatte bereits aufgeben wollen und in einem Interview gesagt: »Einen Achtzigjährigen einzusperren, bringt doch sowieso nicht viel.« Nun, für ihn und die Verwandten von Helen Rydell brachte es etwas. Bis zu seinem Tod würde Hamilton im Gefängnis bleiben.
Der Zeitungsbericht über den Mord an Helen Rydell war an den anderen geheftet und ebenfalls nur kurz und unscheinbar: »Verheiratete Herumtreiberin tot aus dem Fluss gefischt. Handelt es sich um Selbstmord? Helen Rydell, eine Herumtreiberin, die mit einem Neger mehrere Diebstähle begangen haben soll, wurde gestern Morgen tot aus dem Savannah River gefischt. Es spricht alles dafür, dass sich die Frau von der Brücke gestürzt hat. Weitere Einzelheiten sind nicht bekannt.« Kein Wort von dem Kartoffelsack, in den man sie gesteckt hatte, kein Wort darüber, dass es sich nur um Mord gehandelt haben konnte.
Alles nur Lügen! Dreiste Lügen! Er schob den Kartonins Regal zurück und ging wütend in die Küche. So war das immer gewesen, wenn es um den Mord an einem Neger oder einer »weißen Schlampe« gegangen war. Sie hatten die Sache damals so lange gedreht, bis sie ihnen in den Kram gepasst hatte. Aus dem unbescholtenen Landarbeiter, der sein Onkel gewesen war, wurde ein Unruhestifter und Vergewaltiger und aus einer unschuldigen Frau eine gemeine Diebin.
Er füllte frisches Wasser in seine Feldflasche und blieb einen Augenblick stehen, nachdem er den Deckel zugedreht hatte. Ein geheimnisvoller Killer hatte die Tochter von Helen Rydell auf die gleiche Weise wie damals hingerichtet. War er auf einem Rachefeldzug? Wollte er die Nachkommen aller damaligen Opfer umbringen?
Was geschah, wenn der Killer auf seiner Farm auftauchte und ihn wie seinen Onkel aufhängen wollte? Die Eiche neben dem Stall stand immer noch.
Homer Middleton hängte die Flasche an seinen Gürtel und kehrte zögernd auf den Acker zurück. Den Mann, der an der Hauptstraße aus seinem Wagen gestiegen war und ihn durch ein Fernglas beobachtete, sah er nicht. Um die quälenden Gedanken loszuwerden, stimmte er einen Song von Ice T. an: » Ya don’t quit, ya don’t quit , du gibst niemals auf, Baby!«
9
Jenn fuhr gelangweilt über den Highway, den linken Ellbogen am Fenster, die Hand auf dem Lenkrad. Die kühle Luft aus der Klimaanlage blies an ihr vorbei und ließ eine Broschüre auf der Rückbank flattern, ein lästiges Geräusch, das sie schon seit ihrer Abfahrt nervte. Sie würde das Ding in den Kofferraum werfen, sobald sie das Gefängnis in Reidsville erreicht hatten.
Bis zum Georgia State Prison waren es ungefähr anderthalb Stunden. Die Straße führte durch dichte Wälder und Obstplantagen, dazwischen Felder und die rote Erde, für die Georgia so berühmt war. Die Sonne stand hoch am Himmel, nur weit im Westen waren vereinzelte Wolken zu sehen.
Harmon hing auf dem Beifahrersitz und schnarchte lautstark, er war bereits eingeschlafen, als sie aus Savannah herausgefahren waren. Er war nicht gerade begeistert gewesen von der Bitte des Lieutenants, Jeremy Hamilton noch an diesem Nachmittag zu verhören, und hatte zehn Minuten gebraucht, um es seiner Frau am Telefon zu erklären. Betty-Sue, so hieß sie, würde sich nie daran gewöhnen, dass ihr Mann keinem geregelten Job nachging und nicht pünktlich zum Abendessen nach Hause kam.
Jenn war das egal. Der starke Kaffee, den sie sich aus einem Coffee-Shop geholt hatte, weil man das Zeug aus dem Automaten im Revier nicht trinken konnte, hatte ihr neuen Antrieb gegeben. Und der Wunsch, den verfluchten Dreckskerl kennenzulernen, der wahrscheinlich fünf Morde auf dem Gewissen hatte. Vielleicht hatte der Lieutenantrecht, und der Tattergreis hatte tatsächlich eine Ahnung, wer seinen Mord kopiert haben könnte.
»Das will ich doch nicht hoffen«, hatte der Lieutenant gesagt, als sie ihm von dem Mord an Angela Rydell berichtet hatten. »Die Wiederauferstehung des Ku-Klux-Klan? Ein verrückter Kuttenträger, der da weitermacht, wo seine Vorgänger vor vierzig
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