Ghost Street
Mutter und Onkel Abraham, der Bruder seines Vaters. Abraham war ein stattlicher Mann gewesen, noch stattlicher als sein Vater, und hätte alle ledigen schwarzen Mädchen der Gegend haben können. Stattdessen verliebte er sich in eine weiße Frau, die zu allem Überfluss auch noch verheiratet war. Nach ihrem Tod hatten die Zeitungen sie nur noch als »billige Herumtreiberin« beschimpft.
Onkel Abraham hatte eine Kodak besessen, eine Kamera, die man heute nur noch in Antiquitätenläden und Museen fand. Helen Rydell hatte ihm die wertvolle Kamera zu Weihnachten geschenkt. Sie hatte lange dafür gespart. Aus Angst vor dem Ku-Klux-Klan hatten sie nur wenigeFotos voneinander gemacht und eher belanglose Dinge wie chromblitzende Autos und farbenprächtige Blumen fotografiert.
Das einzige gemeinsame Foto, das es von ihnen gab, hatte Homers Vater gemacht. Es lag ganz unten in der Schachtel und zeigte die beiden Arm in Arm auf einem Baumwollfeld. Beide strahlten vor Glück und ließen nicht erkennen, welcher Gefahr sie mit ihrer verbotenen Liebe ausgesetzt waren.
Sich mit einer weißen Frau in der Öffentlichkeit zu zeigen, war damals beinahe so schlimm wie Mord und hatte zumindest für den Schwarzen den sicheren Tod zur Folge. Der selbst ernannte Henker hatte selten Konsequenzen zu fürchten. Keiner der ausschließlich weißen Geschworenen verurteilte einen Weißen, der einen Schwarzen wegen eines solchen Vergehens getötet hatte. Falls man herausfand, dass sich die Frau freiwillig mit dem »Nigger« eingelassen hatte, drohte ihr ebenfalls ein gewaltsamer Tod. Oder sie war als »Schlampe« gebrandmarkt.
Homer Middleton fuhr liebevoll mit den Fingern seiner rechten Hand über das alte Schwarz-Weiß-Foto mit dem gezackten Rand. Er erinnerte sich an seinen Onkel, an seine kräftige Statur, die ausdrucksvollen Augen, das vorgereckte Kinn und dieses herzliche Lachen, wenn er sich über irgendetwas freute. Die Szene auf dem Foto war ein solcher Moment. Als sein Vater das Foto aufgenommen hatte, waren Abraham und Helen die glücklichsten Menschen gewesen.
Middleton vertiefte sich in das Foto, hatte fast das Gefühl, seinen Onkel durch das Fenster vor dem Haus stehen zu sehen. Er hörte sein Lachen und beobachtete, wie er seinen Arm um Helen legte und sie liebevoll anlächelte. Sie waren ineinander verliebt gewesen, ganz sicher, sonst hättensie niemals riskiert, dem Klan in die Hände zu fallen. Irgendjemand hatte sie verraten, sehr wahrscheinlich ein Wichtigtuer, der sich bei den Kuttenträgern unentbehrlich machen wollte.
Seinen Onkel hatten sie nachts aus dem Bett geholt. Vor der Familie seines Bruders schleiften sie ihn aus dem Haus, fesselten ihn und stellten ihn auf die Ladefläche eines Pick-ups. Der Wagen parkte unter der mächtigen Eiche neben dem Stall. Während die Klansmänner die Familie mit Knüppeln und Peitschen in Schach hielten, warf der Anführer, wahrscheinlich Hamilton, ein Seil über einen Ast und zog Abraham die Schlinge über den Kopf. Der Fahrer startete den Pick-up, und die Klansmänner sahen lachend zu, wie sein Onkel erstickte.
Er war damals vier gewesen und hatte kaum etwas mitbekommen, weil seine Mutter ihm die meiste Zeit die Augen zugehalten hatte. Aber als sich die Schlinge gestrafft hatte, war seine Mutter zusammengebrochen, und Homer hatte sich das elende Schauspiel bis zum Schluss ansehen müssen. Sie hatten ein brennendes Kreuz vor dem Haus aufgestellt und ihnen zugerufen: »Keine Angst, ihr kommt auch noch dran! Verfluchtes Pack!«
Homer legte das Foto in den Karton zurück und kramte weiter. Nach einigem Suchen fand er den vergilbten Zeitungsausschnitt, den seine Mutter damals aufgehoben hatte. Unter einem Foto seines Onkels, das sie aus dem Jahrbuch seiner Highschool kopiert hatten, stand in kleinen Buchstaben, als wäre die Meldung viel zu unbedeutend, um sie auf einer der vorderen Seiten zu bringen: »KKK richtet straffälligen Neger. Wie so oft, wenn die staatlichen Organe bei der Verfolgung von Straftätern versagen, griff der Ku-Klux-Klan auch am gestrigen Dienstag wieder zur Selbstjustiz. Er bestrafte Abraham Middleton, einenschwarzen Unruhestifter, der durch das wiederholte Belästigen weißer Frauen auffiel und für die Vergewaltigung mindestens einer verheirateten weißen Frau aus Savannah verantwortlich ist, mit dem Tode durch den Strang. Ein brennendes Kreuz, das vor der Farm des Negers entzündet wurde, symbolisierte den göttlichen Auftrag der ehrenvollen Ritter.«
Homer
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