Ghost Street
wahr?«
»Abschaum«, erwiderte Alessa, aber da war der Staatsanwalt schon verschwunden. Sie setzte sich an ihren Schreibtisch, schaltete den Computer ein und griff nach ihrem Kakaobecher.
8
Homer Middleton hatte den ganzen Morgen auf dem einzigen Acker seiner Farm gearbeitet und Kartoffeln geerntet. Sie waren dieses Jahr besonders groß und würden einen guten Preis bringen. Mit etwas Glück würde er sie sogar an den bekannten Pommes-frites-Hersteller südlich von Savannah verkaufen können. Die bezogen ihre Kartoffeln vor allem von Großfarmen, machten aber auch Ausnahmen, wenn die Qualität besonders gut war und man die Knollen zu tiefgefrorenen Baked Potatoes verarbeiten konnte.
Reich waren die Middletons nicht und auch keine Gutverdiener. Welcher Schwarze war schon wohlhabend? Homer Middletons Farm nordöstlich von Meldrim warf gerade so viel ab, dass er, seine Frau und seine drei Kinder davon leben konnten, aber auch nur, weil Mary-Beth als Zimmermädchen in einem Motel an der Main Street und als Putzfrau etwas dazuverdiente.
An diesem sonnigen Morgen arbeitete der stämmige Schwarze ohne Unterlass. Es galt, die schönen Tage für die Ernte zu nutzen. Mit aktuellen Hip-Hop-Hits trieb er sich bei der Arbeit an. Da er die meisten Texte nicht auswendig kannte, dichtete er fantasievolle Zeilen ohne Sinn.
Gegen Mittag trieb ihn der Hunger zu einer hastigen Mahlzeit nach Hause. Er lief die knappe fünftel Meile zu seinem windschiefen Farmhaus, wärmte den Kartoffeleintopf vom vergangenen Tag auf dem Gasherd auf und setzte sich auf die ramponierte Couch im Wohnzimmer. Mit der Fernbedienung schaltete er den Fernseher ein. Die Simpsons waren seine einzige Gesellschaft beim Mittagessen,denn seine Frau wurde in der Küche des Motels verköstigt und die Kinder aßen in der Schule und kamen erst nachmittags nach Hause.
Während er nach dem Kanal mit den Simpsons suchte, den seine Frau wegen Desperate Housewives oder einer ähnlichen Schnulze weggedrückt hatte, stieß er auf die hübsche Nachrichtensprecherin von Channel 3, die um diese Zeit eigentlich gar nicht dran war. Melinda Stone stand vor der Talmadge Memorial Bridge am Flussufer, das Mikrofon mit dem Logo ihres Senders in der Hand. Am unteren Bildschirmrand lief ein rotes Laufband mit der Meldung BREAKING NEWS: GRAUSAMER MORD AN DER TALMADGE BRIDGE.
Er stellte den Ton lauter und betrachtete wohlwollend das puppenhafte Gesicht der Reporterin, während er seinen Eintopf löffelte. »… erinnert der grausame Mord auf beängstigende Weise an den Mord an Helen Rydell, für den der achtzigjährige Jeremy Hamilton erst vor wenigen Monaten, beinahe vierzig Jahre nach der Tat, lebenslänglich ins Gefängnis geschickt wurde. Als führendes Mitglied des Ku-Klux-Klans, der aus seiner Abneigung gegen Afroamerikaner damals kein Hehl machte, wollte er die weiße Helen Rydell dafür bestrafen, dass sie ein Verhältnis mit einem schwarzen Landarbeiter eingegangen war. Angela Rydell war die einzige lebende Angehörige des damaligen Opfers, ihr Vater starb schon vor einigen Jahren. Ich hatte die Gelegenheit, mit Detective Jennifer McAvoy zu sprechen.« Es folgten das kurze Interview mit der Polizistin und ihr Wutausbruch.
»Wow« , stieß Middleton überrascht hervor. »Solche Cops hätten wir damals gebraucht, dann wäre Hamilton schon seit vierzig Jahren tot. Diese Lady lässt bestimmt nichts durchgehen.« Er merkte sich den Namen, der unterihrem Gesicht eingeblendet wurde: Detective Jennifer McAvoy.
Dann ließ er den Topf mit dem Rest des Kartoffeleintopfs auf dem niedrigen Tisch stehen und ging kauend zu dem doppeltürigen Wandschrank, den sie vor einigen Jahren auf dem Flohmarkt gekauft hatten. Er wühlte in den beiden Schubladen, fand persönliche Papiere und Rechnungen sowie den Ordner mit der Buchhaltung, den seine Frau in ihrer Freizeit führte. Er hatte keine Ahnung von solchen Dingen.
Erst im Regal unter den beiden Schubladen wurde er fündig. Der Schuhkarton stand neben den Büchern seiner Frau. Sie mochte kitschige Romane, in denen hübsche Aschenputtel reiche und gut aussehende Prinzen fanden. Er zog den Karton hervor, setzte sich auf eine Armlehne der Couch und blies den Staub vom Deckel. Seit einer halben Ewigkeit hatte er nicht mehr in den Karton gesehen und in den alten Fotos gestöbert.
Die ganze Familie war auf den Fotos vertreten. Sein Vater, der inzwischen in Hardeeville wohnte und als Hausmeister in einem Kaufhaus arbeitete, seine verstorbene
Weitere Kostenlose Bücher