Ghost Street
das Singen der Räder waren die einzigen Geräusche in der Nacht. Düstere Wolken zogen über den Himmel, nahmen den Mond gefangen und ließen ihn wieder frei. Die Lichtkegel ihrer Scheinwerfer wanderten über den Asphalt. Ihre Gedanken wurden beherrscht von den schrecklichen Bildern der Nacht, aber wenn sie es schaffte, diese für einen Moment zu verdrängen, sah sie David, den seltsamen Mann, der sich beinahe unbemerkt in ihr Herz geschlichen hatte.
Sie hatte einige Männer näher gekannt, war mit etlichen ausgegangen und hatte bei dem einen oder anderen sogar geglaubt, es könne etwas Ernsteres werden. In der Rückschau konnte man die meisten von ihnen vergessen: den oberflächlichen Blender, der sie zum Abschlussball der Highschool geführt hatte, der College-Boy, der nur seine Karriere und seinen Sport im Kopf gehabt hatte, der Student, der wie einer dieser smarten Typen in den Soaps ausgesehen hatte. Auch Mike, der unverbesserliche Macho, der Mutter, Haushälterin und Betthäschen in einer Person gesucht hatte.
David war vollkommen anders, ein Träumer mit sanften Augen und leiser Stimme, ein Romantiker, höflich und zuvorkommend, »alte Schule«, wie man so schön sagte, aber auch forsch und draufgängerisch, wenn es darauf ankam. Ein Mann aus längst vergangener Zeit, der gar nicht so richtig in die Gegenwart passte. Und jemand, der ihr ungelöste Rätsel aufgab. Warum war er so schnell verschwunden, als sie bei der Middleton-Farm ankamen? Und wohin? War er wirklich nur auf dem Friedhof spazieren gegangen? Hatte er zufällig vor dem Grab des ermordeten Bruce Gaddison gestanden? Und woher wusste er so gut über Jeremy Hamilton und seine fünf Morde Bescheid? War er mit einem der Opfer verwandt? Arbeitete er undercover und versuchte, Beweise dafür zu finden, dass Jeremy Hamilton auch die anderen vier Morde begangen hatte? Meinte er das mit »Ich stelle Nachforschungen an«?
Sie erreichte die Stadt und bog in die Altstadt ab. Über die Drayton Street fuhr sie langsam nach Südwesten, eine Hand auf dem Lenkrad, die andere auf dem Beifahrersitz. Außer ihr war niemand auf der Straße. Die Plätze mit ihren Grünflächen lagen verlassen unter dem trüben Himmel.
Ein herrenloser Hund, der unvermittelt auf die Straßelief, zwang sie zu einer Vollbremsung. Sie würgte den Motor ab, fluchte leise vor sich hin und startete erneut. Den Fuß noch auf der Kupplung, sah sie einen dunklen Schatten vor einem der schmiedeeisernen Gartenzäune stehen. Ein Mann, der so gespannt in ihre Richtung blickte, als hätte er nur auf sie gewartet. David! Sie flüsterte seinen Namen, bevor er sich von dem Zaun abstieß und in den schwachen Lichtschein einer Straßenlampe trat und sie sein Gesicht sehen konnte. David! Er war es tatsächlich. Oder doch nicht? Sie stieg aus und blickte in seine Richtung, doch als sie nach ihm rufen wollte, schien er sich in Luft aufzulösen und wie ein Geist in eine schmale Seitenstraße zu schweben.
Sie fuhr an den Straßenrand und rieb sich die Augen, glaubte an ein Trugbild, wie es einem die Sinne nach großer Anstrengung oder einem aufregenden Erlebnis wie in dieser Nacht oft vorgaukelte. Sie war noch jung und steckte manches weg, aber der Anblick des gelynchten schwarzen Farmers und die verzweifelte Witwe mit ihren Kindern waren vielleicht auch für sie zu viel gewesen. Sie schloss für einen Moment die Augen, öffnete sie wieder und sah nur die leere Straße vor sich, den leeren Gehsteig, die aus den Gärten wuchernden Büsche und Blumen und das Straßenschild, das im Schein einer altmodischen Laterne unheimlich leuchtete: President Street.
Der Name war allen Bewohnern von Savannah bekannt. In den alten Villen dieser engen Straße wohnten die berühmtesten Geister der Stadt. Anna Kehoe, die einstige Herrin der gleichnamigen Villa, die vor den Augen ihrer Zwillinge zu Tode stürzte und angeblich nachts durch den langen Flur geisterte. Die Zwillinge, die beim Spielen im Kamin ums Leben kamen und einen Heidenspaß daran zu haben schienen, versteckte Feuer zu legen. Das geheimnisvolleMädchen, das nachts durch die Zimmer einer Pension schlich und die Gäste streichelte. Mehrere Pensionsgäste schworen hoch und heilig, das Mädchen mit den langen Haaren gesehen und ihre Berührung gespürt zu haben.
Auch Alessa kannte die Geschichten. Schon wenige Tage nachdem sie in Savannah heimisch geworden war, hatte man sie auf eine Ghost Tour durch die Altstadt mitgenommen. Sie hatte kein Wort von dem
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