Ghost Street
an. »Meines Wissens hatten wir Polizeischutz beantragt.«
»Polizeischutz?« Die arrogante Art des FBI-Agents ging Jenn schwer auf die Nerven. »Wenn ich mich recht entsinne, war das FBI der Meinung, es bestände keine unmittelbare Gefahr für die Angehörigen von Abraham Middleton. Es würde genügen, alle paar Stunden einen Streifenwagen bei ihnen vorbeizuschicken. Wie es aussieht, hat sich das FBI diesmal gründlich geirrt. Die Killer brauchten nur zu warten, bis die Cops mit ihrem Streifenwagen wieder verschwunden waren.«
Der Lieutenant, der ebenfalls erschienen war und hinter dem Agent stand, warf Jenn einen warnenden Blick zu. Harmon schluckte verlegen.
»Sie haben eine spitze Zunge, Detective«, erwiderte Sunflower. Sein falsches Lächeln milderte die Schärfe in seiner Stimme. »Vielleicht hätten Sie Journalistin werdensollen. Wir vom FBI verlassen uns lieber auf Fakten, und die sprechen auch jetzt noch nicht dafür, dass wir es mit dem Aufleben des Klans oder einer anderen terroristischen Vereinigung zu tun haben. Die Staatsanwältin ist im Haus, sagen Sie?«
»Die Staatsanwältin, die Witwe und ihre drei Kinder«, bestätigte Jenn. »Sie wollen die Witwe befragen, Agent?«
Er glaubte, ihre Kritik erfolgreich abgewehrt zu haben, und fühlte sich als Sieger. »Wer denn sonst? Ich leite die Ermittlungen, schon vergessen?«
Er stolzierte davon und ließ die Detectives mit dem Lieutenant allein.
»Affenarsch!«, flüsterte Jenn.
Der Lieutenant blickte sie strafend an. »Ich muss Sie dringend bitten, sich zu mäßigen, Jenn. Gegen das FBI kommen Sie nicht an.« Ein Lächeln glitt über sein Gesicht. »Auch wenn Sie recht haben. Er ist wirklich ein … wie nannten Sie ihn gerade?«
»Affenarsch!«
»Ja, das trifft es.« Sein Lächeln verschwand. »Ich habe gehört, Sie waren bei Moses Middleton draußen? Hatte ich Ihnen nicht aufgetragen, den Drogendealer zu beschatten?«
»Ein anonymer Anruf«, erklärte sie, ohne rot zu werden. »Die beiden Middletons seien in Gefahr, hieß es. Und wie sich herausstellte, stimmte das ja auch. Leider waren wir beim falschen Middleton.«
»Und Sie haben natürlich keine Ahnung, wer der anonyme Anrufer war.«
»Woher auch?«
Der Lieutenant wechselte einen Blick mit Harmon, der beschämt den Kopf senkte, und sah wieder Jenn an. »Seien Sie vorsichtig, Jenn. Irgendwann bricht Ihnen so ein Alleingangdas Genick. Außerdem ist der Trick mit dem anonymen Anrufer nicht neu.«
»Wir haben einen Hemdendieb verhaftet. Sehen Sie’s von der Seite, Lieutenant. Mit etwas Glück schickt uns das Kaufhaus ein paar Gutscheine.«
»Treiben Sie’s nicht zu weit, Jenn!«
Für eine Fortsetzung des Schlagabtauschs blieb ihnen keine Zeit. Agent Sunflower kehrte enttäuscht in den Hof zurück und winkte Jenn zu sich heran.
»Special Agent Sunflower?«
»Agent reicht vollkommen«, erwiderte er. Der leichte Spott in ihrer Stimme war ihm nicht entgangen. »Sprechen Sie mit der Witwe, Detective. Sie ist etwas … hysterisch. Ist ja auch kein Wunder. Als Frau können Sie damit sicher besser umgehen.«
»Als Detective«, sagte sie.
Sie ging ins Haus, wechselte einen raschen Blick mit Alessa, die mit den Kindern vor dem Fernseher saß und sie mit einem Zeichentrickfilm ablenkte, und wandte sich an die Witwe, die am Fenster stand und mit verweinten Augen in das Scheinwerferlicht starrte.
»Mein aufrichtiges Beileid, Mrs Middleton«, sagte sie zu ihr. »Ich bin Detective Jennifer McAvoy von der Savannah Police. Ich weiß, das ist jetzt nicht der rechte Augenblick, aber dürfte ich Ihnen einige Fragen stellen?«
Die Frau hielt ein zerknülltes Taschentuch in der Hand und schniefte leise. Zum Glück blendete das Scheinwerferlicht so stark, dass sie nicht sehen konnte, wie die Leiche ihres Mannes in einen Plastiksack gepackt und zum Wagen des Gerichtsmediziners getragen wurde. Mary-Beth Middleton war eine hübsche Frau, leicht übergewichtig, aber an den richtigen Stellen, und der altmodische pinkfarbene Morgenmantel ließ ihre Haut noch dunkler erscheinen.
»Sie wollen doch auch, dass wir den Mörder Ihres Mannes fassen, nicht wahr?« Immer dieselben Sätze, aber etwas anderes fiel Jenn nicht ein. Es galt vor allem, die Frau zu beruhigen. Nur wenn sie für einen Augenblick den Schmerz vergaß, konnte sie antworten. »Es dauert nicht lange, Ma’am.«
Vielleicht war es dieses »Ma’am«, ein Ausdruck, den schwarze Frauen selten zu hören bekamen, der sie reagieren ließ. »Was wollen Sie
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