Ghost Street
Jahre mal schneite. Wütend zerrte der Wind an ihren Kleidern, als wollte er ihr jedes einzelne Teil vom Körper reißen.
Gerade als ihre Kräfte nachließen und sich ihre klammen Hände von dem eisernen Zaun lösten, wurde der Sturm schwächer und Alessa fiel zu Boden. Unsanft landete sie auf dem harten Kopfsteinpflaster. Sie blieb einen Moment liegen, wartete darauf, dass der Sturm von Neuem losheulteund sie gegen eine Mauer oder ein parkendes Auto schleuderte, doch nichts geschah. Sie hob zögernd den Kopf.
Der Blizzard war vorüber. Es war wieder so einsam und still wie zuvor, und statt eisiger Kälte umgab sie laue Nachtluft. Ächzend stemmte sie sich vom Boden hoch. Sie massierte ihre verkrampften Hände und griff sich an die schmerzende Nase. Sie blutete immer noch. Sie zog ein Kleenex aus der Tasche und wischte sich vorsichtig sauber. Sie kam sich wie ein Boxer vor, der ordentlich eingesteckt hatte. Noch immer spürte sie die dicken Hagelkörner auf ihrem Gesicht.
Sie wartete, bis die Benommenheit von ihr gewichen war, und blickte sich neugierig um. Woher war der Blizzard gekommen? Ein überraschendes Phänomen der Natur oder pure Einbildung? Oder hatten die Geister der President Street damit zu tun? Unsinn, du spinnst doch, sagte sie sich, du hast eine anstrengende Nacht hinter dir und brauchst dringend Schlaf. Oder war etwa Schnee an ihrer Kleidung? Wahrscheinlich war sie vor lauter Müdigkeit gegen den Zaun gestolpert, hatte sich die Nase aufgeschlagen und sich mit beiden Händen an den eisernen Streben festgehalten. Sie hatte fantasiert, mehr war nicht gewesen. Am besten kehrte sie um und schlief sich mal richtig aus. Morgen sah die Welt sicher anders aus.
Sie ging ein paar Schritte und blieb wieder stehen. Wo war David? Ihn hatte sie sich nicht eingebildet, er hatte wenige Schritte vor ihrem Wagen an dem schmiedeeisernen Zaun gelehnt. Warum hatte er nicht gewartet?
Verwirrt blickte sie an den verwitterten Mauern der Villa empor. Sie sah unbewohnt aus. In keinem der Fenster brannte Licht, und im trüben Schein des Mondes erkannte sie, dass es auch keine Vorhänge gab. Die Scheiben waren schmutzig und teilweise mit Graffiti beschmiert. Um diebeiden Säulen vor dem Eingang rankten sich Kletterpflanzen. Der Garten sah verwildert aus, als hätte seit dem Bürgerkrieg niemand mehr darin gearbeitet.
Sie ging ein paar Schritte weiter und blieb vor der schmiedeeisernen Gartentür stehen. Sie stand offen. Sie spähte hinein und entdeckte erst jetzt das »Zu-verkaufen«-Schild im Garten. Die Zeiten waren schlecht, und es war sicher schwer, ein herrschaftliches Haus wie dieses zu verkaufen. Wahrscheinlich wollten die Besitzer mehrere Hunderttausend Dollar dafür haben.
War David ins Haus gelaufen? Versteckte er sich vor ihr? Und falls ja, warum? Hütete er ein Geheimnis?
Sie war zu müde, um weiter darüber nachzudenken, und kehrte langsam zu ihrem Wagen zurück. Sie kam keine fünf Schritte weit. Ein unheimliches, aber vertrautes Geräusch ließ sie abrupt innehalten. Der Wind, der auch den rhythmischen Singsang und das Klatschen herübergetragen hatte, wehte verzweifeltes Stöhnen und das Klirren von Ketten durch die Nacht. Die gleichen Laute, die sie in der vergangenen Nacht in den Keller getrieben hatten.
Entsetzt blickte sie nach Osten. Die President Street und die Kreuzung mit der Drayton Street lagen verlassen vor ihr. Die alten Laternen flackerten nervös, ein Effekt, der die modernen Glühbirnen wie Kerzen wirken ließ.
Doch schon im nächsten Augenblick tauchten lange Schatten im unruhigen Licht der Laternen auf, gefolgt von den erbarmungswürdigen Gestalten einiger Sklaven, die sich gebückt und mit Ketten aneinander gefesselt über das Kopfsteinpflaster quälten. Der Sklavenjäger trieb sie mit wütenden Peitschenhieben in die President Street und rief: »Nur nicht schlappmachen, ihr verfluchten Nigger, oder ich lasse euch auf der Straße verrecken!«
Entsetzt wich Alessa an den Straßenrand zurück. Sieprallte mit dem Rücken gegen den schmiedeeisernen Zaun, der sich um den Garten der verlassenen Villa zog, und hielt sich ängstlich daran fest. Mit großen Augen sah sie den Sklavenjäger und die Sklaven näher kommen. Die Peitsche knallte über den bedauernswerten Gestalten und hinterließ blutige Striemen auf ihren fast nackten Körpern.
Wie gebannt verharrte Alessa auf der Stelle. Sie war unfähig, sich zu bewegen, war dazu verdammt, den Sklavenjäger immer näher kommen zu sehen. Das eine
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