Ghost Street
geglaubt, was der als Nachtwächter verkleidete Fremdenführer ihnen erzählt hatte, und herzlich über »Black Joe« gelacht, einen jungen Schwarzen, der von der Plantage seines Herrn geflohen, wieder eingefangen und einen Kopf kürzer gemacht worden war. Seitdem pendelte er mit seinem Kopf unter dem Arm zwischen der President Street und dem Friedhof hin und her.
Gruselige Schauergeschichten, die sich gut machten auf so einer Tour durch die »Ghost Street«. So wurde die Touristenattraktion genannt, die einiges Geld in die Stadt brachte. Selbst ihrer Vermieterin traute Alessa zu, die Geschichte von dem Sklavenjäger, der angeblich in ihrem Haus gewohnt hatte, erfunden zu haben, um ein paar Dollar mehr aus ihr herauszuschlagen. Nur wenige Leute in Savannah glaubten wirklich daran.
Alessa stieg aus und starrte für einen Augenblick zu dem Straßenschild empor, bevor sie weiterlief. Ein grauer Schatten hing vor der alten Laterne, verschwand für ein paar Sekunden und legte sich wieder darüber. Obwohl David nicht mehr zu sehen war, glaubte sie, ihn zu riechen und zu fühlen. Seinen Atem, die kaum spürbare Berührung seiner Hände, sein Lächeln, das bis tief in ihre Seele drang.
Hatte sie ihn wirklich gesehen? Oder bildete sie sich seine Gegenwart nur ein? Erlebte sie einen wirren Traum? War sie zu erschöpft und müde, um noch klar denken zu können?
»Alessa! Komm zu mir!«
Die Stimme hallte dumpf und hohl durch den Nebel, der in dichten Schwaden über die Straße zog. Mit dem Nebel klang Musik herüber, der Chorgesang arbeitender Sklaven, ihr rhythmisches Klatschen, die afrikanischen Laute, die ihnen aus der alten Heimat geblieben waren. So leise und so fern, als würde der kühle Abendwind ihre Stimmen von einem der früheren Baumwollfelder vor der Stadt herübertragen.
»Alessa! Hab keine Angst!«
War das wirklich Davids Stimme? Sie klang so anders, nicht so sanft und ehrlich wie des Mannes, der noch vor wenigen Stunden in ihrem Wagen gesessen hatte. Als würde er seine Stimme verstellen, um sie in eine tödliche Falle zu locken. Hatte sie sich so in ihm getäuscht? War sie einem Mann auf den Leim gegangen, der sich die ganze Zeit hinter einer Maske versteckt und sie nur benutzt hatte?
»David! Wo bist du, David? Bitte zeig dich.« Sie hatte ihn doch gesehen, sie hatte ihn wirklich gesehen. Er hatte vor dem Haus mit dem schmiedeeisernen Zaun auf sie gewartet. Wo war er plötzlich hin? Er konnte sich doch nicht in Luft aufgelöst haben! Er war doch kein Geist … oder vielleicht doch?
Sie blieb stehen und blickte zwischen den Streben des schmiedeeisernen Zauns hindurch. Außer einigen Magnoliensträuchern und den mit Efeu bewachsenen Mauern der Villa war nichts zu sehen. »David!«, rief sie mit gedämpfter Stimme. »Wo bist du?«
Ein heftiger Windstoß riss sie von dem Zaun weg und trieb sie unter der Laterne hindurch in die President Street. Ghost Street, Ghost Alley … es gab einige Namen für diese geheimnisvolle Straße. Sie wurde zu beiden Seiten von herrschaftlichen Villen aus der Zeit vor dem Bürgerkrieggesäumt, die Eingänge der Häuser lagen in teilweise verwilderten Gärten und waren von eindrucksvollen Säulenportalen umgeben. Mächtige Eichen erhoben sich und bildeten einen dunklen Baldachin über dem alten Kopfsteinpflaster, ließen nicht einmal in hellen Nächten das Licht des Mondes und der Sterne hindurch. Der Nebel geisterte in feuchten Schwaden über die Geisterstraße.
Wie mächtig diese Geister waren, erfuhr Alessa schon nach wenigen Schritten. Eiskalter Wind hüllte sie ein und drang bis unter ihre Kleidung, der Nebel umzingelte sie und griff mit feuchten Händen nach ihr. Sie geriet ins Wanken und drohte, von dem heftigen Wind zu Boden gedrückt zu werden, schaffte es mit Mühe bis zu einem eisernen Zaun und klammerte sich mit beiden Händen daran fest. Unter ihren Füßen glitt das Kopfsteinpflaster weg, und sie hing plötzlich in der Luft, musste ihre ganze Kraft aufwenden, um nicht wie in einem Wirbelsturm davongeweht zu werden. Vereinzelte Regentropfen, fest wie Hagel und kalt wie Eis, prasselten auf ihr Gesicht, und sie spürte Blut von ihrer Nase sickern. »David!«, rief sie in das plötzliche Unwetter. »David! Hilf mir!«
Ein Schatten zog an ihr vorbei und berührte sie, schenkte ihr einen Augenblick der Wärme inmitten des eisigen Infernos. Kaum war er vorbeigezogen, umgab sie wieder bittere Kälte. Sie war in einem Blizzard gefangen, in Savannah, wo es alle hundert
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