Ghost
Geltung kam als der See. Die Regale waren voll von Büchern über deutsche Militärgeschichte. Die Sonne und die salzhaltige Luft hatten die Buchrücken mit den Hakenkreuzen ausgebleicht. Es gab zwei Schreibtische – einen kleineren in einer Ecke, an dem eine Sekretärin vor einem Computer saß, und einen größeren, der bis auf die Fotografie von einem Rennboot und dem Modell einer Segeljacht gänzlich leer war. Das sauertöpfische alte Skelett, das auf dem Foto am Steuer des Bootes stand, war Marty Rhinehart. Er widerlegte das alte Sprichwort, man könne nie zu dünn oder zu reich sein.
»Wir sind ein kleines Team«, sagte Amelia. »Ich, Alice hier ...« Das Mädchen in der Ecke schaute auf. »... und Lucy, die gerade mit Adam in New York ist. Jeff, der Fahrer, ist auch in New York, er kommt heute Nachmittag mit dem Wagen aus New York zurück. Sechs Mann Personenschutz, vom Staat – drei sind hier, drei sind im Augenblick bei Adam. Wir brauchen dringend noch eine Kraft, und wenn es nur für den Umgang mit den Medien ist. Aber Adam kann sich nicht dazu durchringen, jemanden für Mike einzustellen. Sie waren eine Ewigkeit zusammen.«
»Und wie lange sind Sie schon bei ihm?«
»Acht Jahre. Ich habe in Downing Street gearbeitet. Hier bin ich auf Abordnung vom Cabinet Office.«
»Bedauernswertes Cabinet Office.«
Sie lächelte ihr Nagellacklächeln. »Am meisten vermisse ich meinen Mann.«
»Sie sind verheiratet? Mir ist aufgefallen, dass Sie keinen Ring tragen.«
»Kann ich nicht, leider. Er ist zu groß. Piepst, wenn ich am Flughafen durch die Sicherheitsschranke gehe.«
»Ah.« Wir beide verstanden uns perfekt.
»Außerdem beschäftigen die Rhineharts ein vietnamesisches Ehepaar, das hier im Haus wohnt. Aber die beiden sind so diskret, Sie werden sie kaum bemerken. Die Frau kümmert sich um den Haushalt, der Mann um den Garten. Dep und Duc.«
»Wer ist wer?«
»Duc ist der Mann. Was haben Sie gedacht?«
Sie zog einen Schlüssel aus einer Tasche ihres gut geschnittenen Blazers, schloss einen großen Metallschrank auf und nahm einen Aktenkarton heraus.
»Der darf diesen Raum nicht verlassen«, sagte sie und stellte den Karton auf den Schreibtisch. »Keine Kopien. Sie können sich Notizen machen, aber ich muss Sie daran erinnern, dass Sie eine Vertraulichkeitserklärung unterschrieben haben. Sie haben sechs Stunden, bis Adam aus New York zurückkommt. Ich werde Ihnen zum Lunch ein Sandwich hochbringen lassen. Alice, wir gehen. Wir wollen den Herrn nicht von seiner Arbeit abhalten.«
Nachdem sie gegangen waren, setzte ich mich am Schreibtisch auf den ledernen Drehsessel, packte meinen Laptop aus, schaltete ihn ein und erstellte ein Dokument mit dem Titel »Lang MS«. Dann lockerte ich meine Krawatte, nahm die Armbanduhr ab und legte sie neben den Karton auf den Schreibtisch. Ich gönnte mir ein paar Sekunden, um auf Rhineharts Sessel hin und her zu wippen und dabei den Meerblick und das allgemeine Gefühl zu genießen, Herrscher über die Welt zu sein. Dann klappte ich den Deckel des Kartons auf, nahm das Manuskript heraus und fing an zu lesen.
*
Alle guten Bücher sind verschieden, aber alle schlechten sind exakt gleich. Dass dem so ist, weiß ich, weil ich im Lauf meiner Arbeit einen Haufen schlechter Bücher gelesen habe – Bücher, die so schlecht waren, dass sie nicht einmal veröffentlicht wurden, was ein ziemliches Kunststück ist, wenn man bedenkt, was alles veröffentlicht wird.
Was diese schlechten Bücher alle gemein haben – egal, ob Romane oder Memoiren –, ist Folgendes: Sie klingen nicht wahr. Ich behaupte nicht, dass der Inhalt eines Buches notwendigerweise wahr sein muss, man muss ihn nur für wahr halten, so lange man das Buch liest. Ein Verlegerfreund von mir nennt das den Wasserflugzeugtest, nach einem Film über die Menschen in London, dessen erste Szene den Helden auf dem Weg zu seiner Arbeit zeigt: Er landet mit seinem Wasserflugzeug auf der Themse. Von da an, so mein Freund, war es sinnlos, noch weiter zuzuschauen.
Adam Langs Memoiren fielen beim Wasserflugzeugtest durch.
Es lag nicht daran, dass die Tatsachen notwendigerweise falsch waren – in diesem Stadium war ich noch gar nicht in der Lage, das zu beurteilen –, es lag mehr daran, dass das ganze Manuskript sich irgendwie falsch anfühlte, so als befände sich in seinem Zentrum ein Hohlraum. Es bestand aus sechzehn Kapiteln, in chronologischer Folge: »Die frühen Jahre«, »Der Weg in die Politik«,
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