Ghost
hatte seine Spur mich hierher in eine Gegend geführt, die zum Spazierengehen geradezu einlud.
Ich stieg aus und schloss den Wagen ab. Nach zwei Stunden am Steuer konnte meine Lunge etwas von der kalten und feuchten Luft Neuenglands vertragen. Ich dehnte mich und vertrat mir auf der nassen Fahrbahn die Beine. Das rote Eichhörnchen beobachtete mich von seinem Hochsitz auf der anderen Straßenseite aus. Ich machte ein paar Schritte auf den putzigen kleinen Nager zu und klatschte in die Hände. Er sprang vom Schild herunter und schoss den nächsten Baum hinauf. Sein hin und her wedelnder Schwanz winkte mir zu wie ein angeschwollener Stinkefinger. Ich suchte im Unterholz nach einem Stock, den ich nach ihm werfen könnte, ging dann aber schnell wieder auf die Straße zurück. Es war wohl besser, wenn ich mich nicht zu lange in diesem Wald herumtrieb, sagte ich mir. Auf das tiefe Schweigen von zehntausend Bäumen konnte ich gut verzichten.
Ich war auf der Straße etwa zwanzig Meter gegangen, als sich zwischen den Bäumen eine so schmale Lücke auftat, dass ich sie fast übersehen hätte. Dezent von der Straße zurückgesetzt, versperrte ein elektrisches Tor mit fünf Gitterstäben eine private Auffahrt, die nach wenigen Metern eine Kurve beschrieb und hinter den Bäumen verschwand. Das Haus konnte ich nicht sehen. Neben dem Tor standen ein grauer Metallbriefkasten ohne Namensschild, aber mit einer Nummer versehen – 3551 –, eine Steinsäule mit Gegensprechanlage und Ziffernblock und ein Schild: »DIESES GRUNDSTÜCK WIRD VON CYCLOPS SECURITY BEWACHT«, darüber ein Augapfel mit einer gebührenfreien Telefonnummer. Ich zögerte, dann drückte ich den Klingelknopf. Während ich wartete, schaute ich mich um. In einem der Bäume war an einem Ast eine kleine Videokamera befestigt. Ich drückte wieder auf den Klingelknopf. Keine Reaktion.
Ich trat einen Schritt zurück, unschlüssig, was ich jetzt tun sollte. Kurz dachte ich daran, über das Tor zu steigen und eigenmächtig das Grundstück zu inspizieren, aber sowohl der Anblick der Videokamera als auch des Auges von CYCLOPS SECURITY hielten mich davon ab. Mir fiel auf, dass der Briefkasten so vollgestopft war, dass die Klappe nicht richtig schloss. Niemand kam zu Schaden, wenn ich wenigstens den Namen des Hausbesitzers herausfand. Ich schaute mich noch einmal um, blickte dann mit einem entschuldigenden Achselzucken hinauf zur Kamera und zog einen Packen Briefe aus dem Kasten. Sie waren entweder an Mr und Mrs Paul Emmett, Professor und Mrs Paul Emmett, Professor Emmett oder Nancy Emmett adressiert. Nach den Poststempeln zu urteilen, war der Briefkasten schon seit mindestens zwei Tagen nicht mehr geleert worden. Die Emmetts waren eindeutig nicht zu Hause. Bei einigen nachgesendeten Briefen war die ursprüngliche Adresse von einem Aufkleber verdeckt. Mit dem Daumen kratzte ich einen der Aufkleber von der Erstadresse. Emmett war anscheinend Präsident emeritus einer Organisation namens Arcadia Institution mit Sitz in Washington.
Emmett ... Emmett ... Der Name kam mir irgendwie bekannt vor, ich wusste nur nicht, woher. Ich stopfte die Post wieder in den Briefkasten und ging zum Wagen zurück. Ich öffnete meinen Koffer, nahm das an McAra gesandte Kuvert heraus und fand zehn Minuten später das, woran ich mich vage erinnert hatte: P. Emmett (St John’s) hatte zum Ensemble der Footlights Revue gehört und war mit Lang auf dem Foto abgebildet. Er war der Älteste der Gruppe, der, den ich für einen Doktoranden gehalten hatte. Er hatte kürzeres Haar als die anderen und sah bürgerlicher aus: »Spießig« hätte man damals gesagt. War das der Grund, warum McAra die weite Fahrt unternommen hatte? Recherchearbeit an seinem Cambridge-Puzzle? Emmett wurde, wenn ich mich recht erinnerte, in den Memoiren auch erwähnt. Ich nahm das Manuskript aus dem Koffer und blätterte zu dem Kapitel über Langs Studienzeit, fand aber nichts über Emmett. Stattdessen wurde er am Anfang des allerletzten Kapitels zitiert:
»Harvard-Professor Paul Emmett hat in mehreren Essays daraufhingewiesen, welch einzigartige Bedeutung die englisch sprechenden Völker bei der Ausbreitung der Demokratie in der Welt gespielt haben. ›Solange diese Nationen zusammenstehen, ist die Freiheit sicher. Wann immer sie gewankt haben, hat die Tyrannei an Kraft gewonnen.‹ Ich stimme dieser Einschätzung völlig zu.«
Das Eichhörnchen tauchte wieder auf. Es blieb am Straßenrand sitzen und beobachtete mich
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