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Ghost

Titel: Ghost Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Harris
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feindselig.
    Merkwürdig: Das Wort passte auf alles, was mir durch den Kopf ging. Merkwürdig.
    Ich kann mich nicht mehr daran erinnern, wie lange ich so dasaß. Aber ich weiß noch: Ich war so in Gedanken versunken, dass ich gar nicht daran gedacht hatte, die Heizung anzustellen. Erst als ich das näher kommende Geräusch eines anderen Wagens hörte, fiel mir auf, dass ich vor Kälte ganz steif war. Ich schaute in den Rückspiegel und sah ein Scheinwerferpaar, dann fuhr ein kleiner japanischer Wagen an mir vorbei. Am Steuer saß eine dunkelhaarige Frau in mittlerem Alter, auf dem Beifahrersitz ein etwa sechzigjähriger Mann mit Brille, der Jackett und Krawatte trug. Er schaute mich an, als sie vorbeifuhren, und ich wusste sofort, dass es sich um Emmett handelte. Nicht weil ich ihn erkannte (was ich nicht tat), sondern weil ich mir nicht vorstellen konnte, wer das auf dieser abgelegenen Straße sonst hätte sein sollen. Der Wagen hielt vor dem Tor, Emmett stieg aus und nahm die Post aus dem Briefkasten. Wieder schaute er in meine Richtung, und ich dachte schon, dass er herkommen und mich zur Rede stellen würde. Aber er ging zurück zum Auto, das sich wieder in Bewegung setzte und Sekunden später aus meinem Blickfeld verschwand. Wahrscheinlich fuhren sie zum Haus.
    Ich gab ihnen zehn Minuten, um den Wagen abzustellen und ins Haus zu gehen, dann ließ ich den Motor an und fuhr zum Tor. Ich klingelte, und diesmal kam die Reaktion prompt.
    »Ja?«
    Es war eine Frauenstimme.
    »Spreche ich mit Mrs Emmett?«
    »Wer sind Sie?«
    »Ich hätte gern mit Professor Emmett gesprochen.«
    »Er ist im Moment sehr müde.« Sie sprach sehr gedehnt, ein Tonfall zwischen englischer Aristokratin und Südstaatenlady. Der blecherne Klang der Gegensprechanlage verstärkte diesen Eindruck noch.
    »Es dauert nicht lange.«
    »Haben Sie einen Termin?«
    »Ich bin ein Mitarbeiter von Adam Lang. Es geht um seine Memoiren.«
    »Einen Augenblick bitte.«
    Ich wusste, dass sie mich jetzt durch die Videokamera begutachteten. Ich gab mir Mühe, mich angemessen respektabel in Stellung zu bringen. Als die Gegensprachanlage wieder zu knacken anfing, meldete sich eine männliche Stimme: volltönend, schauspielerhaft.
    »Paul Emmett. Da muss ein Irrtum vorliegen.«
    »Ich glaube, dass Sie zusammen mit Adam Lang in Cambridge waren.«
    »Wir waren zur selben Zeit da, richtig, aber ich kann nicht behaupten, dass ich ihn kenne.«
    »Ich habe ein Foto, das Sie beide zusammen in der Footlights Revue zeigt.«
    Es entstand eine lange Pause.
    »Kommen Sie rein.«
    Ein Elektromotor summte, dann schwang das Tor langsam auf.
    Als ich die Auffahrt hinauffuhr, schob sich zwischen den Bäumen nach und nach das große dreistöckige Haus in mein Blickfeld: der Mittelteil aus grauem Stein, flankiert von Seitenflügeln aus weiß gestrichenem Holz. Die meisten Fenster hatten Rundbögen, kleine Scheiben aus geriffeltem Glas und große Lamellenläden. Das Alter war unbestimmbar, es hätte sechs Monate oder hundert Jahre alt sein können. Eine kurze Treppe führte hinauf zu einer Veranda, die von einem auf Säulen ruhenden Dach geschützt wurde. Dort stand Emmett, um mich persönlich in Empfang zu nehmen. Die Größe des Anwesens mit seinen abschirmenden Bäumen rief ein starkes Gefühl von Abgeschiedenheit hervor. Das einzige Zivilisationsgeräusch stammte von einem großen Jet, der, in den niedrigen Wolken unsichtbar, im Landeanflug auf den Logan International Airport war. Ich stellte den Ford neben Emmetts Wagen vor die Garage und stieg aus. Den Umschlag mit den Fotografien nahm ich mit.
    »Sie müssen entschuldigen, wenn ich einen etwas angeschlagenen Eindruck mache«, sagte Emmett, nachdem wir uns die Hand gegeben hatten. »Wir sind gerade mit dem Flugzeug aus Washington gekommen, ich bin ein bisschen müde. Normalerweise empfange ich ohne vorherige Terminabsprache keine Gäste. Aber mit Ihrem Hinweis auf die Fotografie haben Sie mich dann doch neugierig gemacht.«
    So akkurat er sprach, so kleidete er sich auch. Seine Brille hatte ein modisch elegantes Schildpattgestell, das Jackett war dunkelgrau, das Hemd zartblau, die Krawatte zierte das Motiv »Fasanen im Flug«, und in seiner Brusttasche steckte ein farblich passendes Einstecktuch aus Seide. Jetzt, da ich direkt vor ihm stand, erkannte ich den jüngeren Mann, der mich aus den Augen des älteren anblickte: Das Alter hatte lediglich die Konturen etwas verwischt, das war alles. Er schaute dauernd auf den Umschlag.

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