Ghostman: Thriller (German Edition)
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Der Wolf.
VIERUNDZWANZIG
» Ich habe mich gefragt, wann wir uns begegnen«, sagte der Wolf, als ich zu ihm auf den Rücksitz stieg. Trotz der sommerlichen Wärme war das Leder kalt wie im Winter. Anscheinend war die Klimaanlage auf arktische Kälte eingestellt. Der Wolf war nicht bewaffnet, denn das hatte er nicht nötig. Die Skinheads mit der Schrotflinte parkten neben uns, und ich konnte nicht weglaufen. Sein Fahrer war vermutlich auch bewaffnet. Ich sah den Wolf an, als hätte ich ihm nichts zu sagen.
» Sie sind nicht das, was ich erwartet habe«, sagte er dann. » Nach allem, was ich gehört habe, dachte ich, sie wären viel jünger.«
» Ich weiß nicht, was Sie erwartet haben«, sagte ich. » Ich bin, was ich bin.«
Der Wolf nickte vielsagend. » In der Tat. Und Sie wissen auch, wer ich bin, ja?«
» Ja«, sagte ich. » Sie heißen Harry Turner.«
Es war plötzlich totenstill. Diese Antwort hatte er auch nicht erwartet. » Wer hat Ihnen das gesagt?«, fragte er schließlich.
» Leute.«
» Marcus.«
» Leute.«
» Ihre Leute haben recht. Das ist einer meiner Namen. Aber ich war nie ein Fan von Harry. Das ist eine Verballhornung meines richtigen Namens, Harrihar. Wissen, Sie, was Harrihar bedeutet?«
» Keine Ahnung.«
» Es ist ein indischer Name. Einer der Namen Krishnas, ein Avatar Vishnus, der nach der Überzeugung einiger Sekten der oberste Gott der Hindu-Religion ist. Vishnu ist der Bewahrer, der allwissende und allmächtige Beschützer des Universums. Harry erfasst da nicht die vollständige Bedeutung. Meinen Sie nicht auch?«
» Wohl nicht.«
» Aber vielleicht kennen Sie mich ja noch unter einem anderen Namen. Einem etwas Einprägsameren.«
» Man nennt Sie den Wolf.«
» Gut.« Der Wolf rutschte auf seinem Sitz nach vorn. » Dann wissen Sie ja wenigstens, wer ich bin.«
» Wie haben Sie mich gefunden?«
» Ich bitte Sie, das kann ich Ihnen doch nicht sagen. Sie könnten versuchen, mir in die Quere zu kommen. Es muss genügen, wenn ich sage, ich kann Ihnen überallhin folgen.«
Ich schniefte.
» Sie sind Marcus’ Ghostman, nicht wahr? Das sehe ich. Ich erkenne es an Ihren Händen. Ihre Fingerkuppen sind so glatt wie Ihre Nasenspitze.«
» Ich arbeite nicht für Marcus«, sagte ich.
Er lächelte. » Sicher nicht. Sie sind Freelancer. Sie arbeiten nur für sich selbst, nicht wahr?«
Ich antwortete nicht.
» Sehen Sie viel Nachrichten?«, fragte der Wolf. » Bei mir zu Hause läuft immer ein Fernseher. Meine Frau meckert ständig darüber. Wenn ich ein Zimmer betrete, schalte ich den Apparat ein, und manchmal vergesse ich dann, ihn wieder abzuschalten. Es passiert fast unbewusst. Ich frühstücke und sehe die Nachrichten. Ich arbeite und sehe die Nachrichten. Ich telefoniere und sehe die Nachrichten. Ich merke es kaum noch, aber sie schon. Wir reden miteinander, ich höre ihr zu, achte jedoch gleichzeitig darauf, was in den Nachrichten gesagt wird. Darüber regt sie sich auf. Aber ich kann einfach nicht anders, verstehen Sie. Man weiß nie, was sie als Nächstes zeigen. Jetzt kommt vielleicht eine Story über ein Mädchen, das irgendwo vermisst wird, was ich sofort wieder ausblende. Und in der nächsten Stunde kommt schon etwas anderes. Das könnte eine Story sein, die meinen ganzen Tagesablauf verändert, vielleicht sogar mein Leben.
Wissen Sie, ich war einmal in den Nachrichten. Sie haben mein Gesicht nicht gezeigt und meinen Namen nicht genannt, aber ein Lokalsender hat eine Story gebracht, die sich um eins meiner Geschäfte drehte. Ein kleines Mädchen war von zu Hause weggegangen und wurde seit ein paar Tagen vermisst. Einige Zeit später hatte man sie gefunden, besinnungslos auf einem Brachgrundstück neben einem meiner Werkstattbetriebe. Auf den ersten Blick sah sie unversehrt aus, aber als man sie untersuchte, stellte man fest, dass etwas nicht stimmte. Sie konnte nur noch verschwommen sehen. Bei einer Blutuntersuchung stellte man fest, dass sie großen Mengen von Phosphangas ausgesetzt gewesen war. Das war rätselhaft, denn da, wo man sie gefunden hatte, waren keine Aluminiumphosphid-Pellets– Sie wissen schon, Rattengift– gefunden worden. Wenn die mit Feuchtigkeit in Kontakt kommen, entsteht Phosphangas, das hochgiftig ist. Es hatte nur nach faulem Fisch gerochen. Die Nachrichtenleute waren ratlos. Was sie nicht wussten, war, dass sich im Keller der Werkstatt ein Meth-Labor befand. Die Dämpfe waren am Abend zuvor durch ein Abluftrohr auf das Brachgrundstück
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