Ghostwalker 02 - Raven, M: Ghostwalker 02
schon ganz verrückt vor Sorge. Und Ryan … nein, darüber wollte sie nicht nachdenken.
Mia sah sie aufmerksam an. „Wie lange hast du deine Schwester nicht gesehen?“
Unerwartet stiegen Tränen in ihre Augen, die sie hastig fortblinzelte. „Über drei Monate.“
„Das ist eine lange Zeit. Habt ihr das Band?“
Kainda vergaß für einen Moment ihren Kummer. Erstaunt sah sie Mia an. „Du weißt davon?“
Mia hob eine Schulter. „Es ist selten, aber ich habe davon gehört. Manchmal besteht es zwischen Eltern und Kind oder zwei Geschwistern oder in noch selteneren Fällen auch zwischen zwei Partnern.“
„Ich spüre sie nicht mehr, seit ich betäubt und dann ausgeflogen wurde. Davor waren wir lange Zeit weit voneinander entfernt, und ich habe Jamila nur noch selten gespürt, nur wenn sie besonders aufgeregt war.“
Oder erregt. Ob ihre kleine Schwester immer noch den blonden Hünen so interessant fand? Mit einem schmerzhaften Stich erkannte Kainda, dass sie über der aufreibenden Suche nach einem Rückweg ganz vergessen hatte, sich für das zu interessieren, was in Jamilas Leben vor sich ging. Der Wunsch, nach Afrika zurückzukehren, war so übermächtig in Kainda gewesen, dass sie dafür die enge Beziehung zu ihrer Schwester aufs Spiel gesetzt hatte. Und wie sie Jamila kannte, würde sie lauter Ausreden für das Verhalten ihrer älteren Schwester finden und ihr absolutes Verständnis entgegenbringen. Verdammt, sie vermisste Jamila.
Mias Stimme brach in ihre Gedanken. „Ich habe einen Laptop, von dem aus du eine E-Mail schicken kannst, ohne dass sie hierher zurückverfolgt werden kann.“
Dankbar sah Kainda sie an. „Das würde mir sehr viel bedeuten, vielen Dank.“
Mia neigte den Kopf. „Ich werde ihn bei meinem nächsten Besuch mitbringen. Jetzt solltest du dich wieder zurückverwandeln. Die meisten Mitarbeiter hier wissen nicht, dass Wandler überhaupt existieren, und sie würden sich wundern, wenn plötzlich eine Frau im Käfig sitzt.“
„Okay.“
An der Tür drehte Mia sich noch einmal um. „Und Kainda …“
„Ja?“
„Vielleicht solltest du auch dem Mann eine E-Mail schicken, der dein Herz erobert hat.“
Kainda starrte die Löwenwandlerin mit offenem Mund an. „Woher …?“
Mia lächelte sie an. „Ich kann ihn noch an dir riechen. Wenn du ihm so nahe warst, wird es schwer sein, ihn zu vergessen.“ Der letzte Satz hörte sich an, als hätte Mia diese Erfahrung schon gemacht.
„Ich denke darüber nach. Er ist … ein Mensch.“
„Und? Ich habe schon einige nette Exemplare der Sorte kennengelernt.“ Mit einem Lachen verließ Mia den Raum.
Kainda verwandelte sich zurück und legte den Kopf auf die Decke, nachdem sie wieder allein war. Ihr Bein schmerzte immer noch höllisch, aber sie konnte beinahe spüren, wie die Knochen, Sehnen und Muskeln heilten. Die Salbe schien jedenfalls zu wirken. Es war erstaunlich, wie offen Mia mit ihrem Wandlerdasein umging. Sie lebte und arbeitete unter Menschen und hatte anscheinend keine Angst, irgendwann einmal entdeckt zu werden. Gut, wenn sie hier jemand in Tierform sah, würde sie höchstens in einen Käfig gesteckt und nicht gleich erschossen werden. Trotzdem fragte Kainda sich allmählich, ob die Angst, mit der die meisten Wandler ihr ganzes Leben verbrachten, nicht übertrieben war. In den meisten Situationen hatte ein Wandler totale Kontrolle über seinen Körper, nur bei äußerster Erregung, Wut oder wenn er verletzt wurde, konnte es passieren, dass er sich ungewollt verwandelte.
Keine Frage, es war sicherer, in reinen Wandlergruppen irgendwo in der Wildnis zu leben, als zu riskieren, in einer Stadt aufzufallen und damit vielleicht nicht nur sich selbst, sondern alle Wandler zu gefährden. Die Frage war nur, ob das auf Dauer eine Lösung war. Wie bei allen anderen Menschen auch änderten sich die Bedürfnisse der Wandler mit der Zeit. Seit es Fernsehen und vor allem Internet gab, zog es die jüngeren Leute dorthin, wo sie all diese tollen Dinge ausprobieren konnten, die sich ihnen boten. Und das konnte für sie gefährlicher sein als für Wandler, die es gewohnt waren, unter Menschen zu leben. Sie selbst zog es allerdings nicht unbedingt in die Stadt, sie mochte die Natur und ihre Einsamkeit. Zumindest meistens.
Kinderlachen erklang in ihrem Kopf, fröhlich und unschuldig. Glücklich. Der Schmerz traf Kainda so tief, dass sie sich aufkeuchend zu einem Ball zusammenrollte. Sie hatte geahnt, dass es schwer werden würde,
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