Ghostwalker 02 - Raven, M: Ghostwalker 02
für sie sein, hierher zurückzukommen. Warum also tat sie es? Um sich zu verabschieden? Er konnte nicht sagen, ob dieses Verhalten bei Leoparden schon einmal beobachtet worden war, aber inzwischen hatte er oft genug bemerkt, dass Etana alles andere als eine normale Leopardin war. Ein neues Gefühl von Dringlichkeit überkam ihn. Falls Etana hier war, wollte er nicht, dass sie mit den Toten allein war.
Rasch lief er weiter, bemüht, bei jedem Schritt darauf zu achten, wo er hintrat. Schließlich wurde die Vegetation allmählich dünner, und er erreichte nach einigen Minuten eine Art Lichtung, die von den Kronen hoher Bäume überdacht war. Einzelne Sonnenstrahlen fielen auf den Boden und zeichneten Muster in den rötlichen Sand. Es wirkte fast wie das Zentrum des Gebiets, der Ort, an dem sich die Mitglieder einer Gruppe treffen würden. Zumindest bei Menschen. Ryan schüttelte den Kopf und sah sich genauer um. Es gab keine Anzeichen von menschlichen Behausungen oder Gerätschaften. Und auch keine Spur von Etana.
Entmutigt wollte er schon aufgeben, als er auf dem Boden eine frische Schleifspur entdeckte. Etwa einen Meter breit führte sie auf geradem Weg von der Mitte der Lichtung zum Rand und verschwand zwischen den Bäumen. Aufregung erfüllte ihn. Irgendjemand war hier gewesen, die Spur konnte nicht älter als ein paar Stunden sein. Ryan hockte sich hin und untersuchte den Boden daneben nach Tatzenspuren. Doch da waren keine. Erstaunt ließ er sich auf die Hacken sinken. Wie war das möglich? Wer auch immer die Spur hinterlassen hatte, musste irgendwie in die Mitte der Lichtung gekommen sein. Oder er hatte sie verwischt.
Der Gedanke trug nicht gerade dazu bei, dass Ryan sich wohler fühlte. Dennoch folgte er der Spur. Als sich die Bäume um ihn schlossen, wurde es schwieriger, denn der Boden war mit Gras bedeckt und die Schleifspur nur noch selten zu erkennen. Schließlich führte sie ihn auf eine sonnenbeschienene Lichtung. Abrupt blieb Ryan stehen, als er am anderen Ende unter den ausladenden Ästen einer Akazie eine Frau stehen sah. Sie war nackt, und ihre Haut hatte einen warmen Braunton. Einzelne Strähnen ihrer halblangen schwarzen Haare wehten im Wind. Obwohl sie ihm den Rücken zuwandte, erkannte Ryan Kainda sofort. Die überwältigende Freude, sie wiederzusehen, zu wissen, dass es sie wirklich gab, wich der Verwirrung. Was tat sie hier, und wo war Etana?
Instinktiv duckte Ryan sich hinter ein Gebüsch und beobachtete Kainda, die unbeweglich dastand, den Kopf gesenkt, die Arme um ihren Körper geschlungen, als hätte sie Schmerzen. Er wollte zu ihr gehen, sie an sich ziehen und trösten, doch er blieb, wo er war. Es dauerte eine Weile, bis er den Blick von ihr lösen konnte und die beiden flachen Erdhaufen zu ihren Füßen entdeckte. Gräber. Sein Herz zog sich zusammen, als er erkannte, was sie hier tat: Sie trauerte. Seine Fingernägel bohrten sich in seine Handflächen, als Kainda in die Knie sackte und ihre Hände auf die beiden Hügel legte. Ihr schmaler Körper zuckte, und er konnte ihren Kummer tief in seinem Innern spüren. Seine Kehle schnürte sich zu, und er schloss die Augen.
30
Kainda tauchte erst wieder aus ihrer Trauer auf, als es um sie herum merklich dunkler wurde. Ihr Blick klärte sich, und sie merkte, dass sie vor den Gräbern kniete. Wann war das geschehen? Sie hatte es gar nicht mitbekommen. Alles an ihr tat weh, ihr Brustkorb war so eng, dass sie kaum Luft bekam. Es fühlte sich an, als hätte sie Sandpapier unter den Lidern, und ihre Wangen waren feucht. Seit sie betäubt von hier weggebracht worden waren, hatte sie den Schmerz nicht mehr so an sich herangelassen, dass er sie überwältigte. Auch jetzt war er noch da, erfüllte jede Zelle ihres Körpers, aber nun endlich konnte sie die Kontrolle aufgeben, die sie sich vorher auferlegt hatte. Jetzt war es egal, dass sie nicht mehr weiterkonnte und so ausgelaugt war, dass jeder Schritt zu viel schien. Ihre Aufgabe war erledigt.
Langsam erhob Kainda sich und blieb schwankend stehen. Sie hatte nichts gegessen, seit sie bei Mia aufgebrochen war, und die schwere körperliche und psychisch belastende Arbeit, alle Knochen aufzusammeln, die sie finden konnte, und sie auf einer Decke hierher zu transportieren, hatte ihre letzten Kräfte aufgezehrt. Vielleicht sollte sie sich einfach neben die Gräber legen und darauf warten, dass die Natur den Rest erledigte. Allerdings war da immer noch dieser Funke, der ihr sagte, dass sie um ihr
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