Gib dich hin (German Edition)
anderen lesen wie in einem offenen Buch. Und sie war stets bestens informiert. Nein, ihr konnte man nichts vormachen.
»Die Stadt hat Augen und Ohren. Meine Dämonen bewegen sich unter den Menschen, als wären sie von ihrer Art. Wie sollte mir da entgangen sein, dass du seit Neuestem eine Schwäche für zierliche Blondinen hast? Und eine interessante Blondine ist es ja noch dazu. Man sagte mir, dass sie eine außergewöhnlich helle Aura besäße. Ihre Astralenergie muss sehr schmackhaft und stärkend sein.«
Die Vorstellung, dass einem anderen als ihm dieses wunderbare Leuchten gehören sollte, machte ihn rasend. Unwillkürlich riss er etwas von dem Rattan an der Stuhllehne ab und zerdrückte es in seiner Hand.
Lady Ovida lehnte sich zufrieden zurück, nahm erneut die Brille ab und fing an, sie mit einem Reinigungstuch zu säubern. Dies tat sie äußerst gründlich, hauchte die Gläser an und polierte sie sodann in aller Seelenruhe, als gäbe es gerade nichts Wichtigeres.
»Wie viele Seelen schuldest du mir noch gleich? Sechshundert? Siebenhundert?«
»Über tausend!«, antwortete er zähneknirschend.
»Das ist nicht wenig und wird wohl auch noch einige Jahre in Anspruch nehmen. Ich mache dir einen Vorschlag zur Güte. Ich bin sehr neugierig auf dieses Mädchen geworden. Wenn du mir ihre Seele bringst, vergessen wir deine Schuld, und du bist auf der Stelle frei.« Sie schnippte mit dem Finger.
Nachdem er den ersten Schock über dieses Angebot verdaut hatte, fuhr er sich nachdenklich über das Kinn. Der Deal war nicht schlecht und seine Sehnsucht nach Freiheit sehr groß. Nach all den Jahren war sie in so unerreichbare Ferne gerückt, dass er die Hoffnung eigentlich längst aufgegeben hatte, jemals wieder in sein altes Leben zurückzukehren. Ihm ging es nicht schlecht unter Ovida. Sie hatte ihn aus der Hölle geholt, ihn ausgebildet, ihn unterwiesen und zu dem gemacht, was er heute war. Ein Seelenjäger. Das Abbild eines Dämons. Und wie ein solcher dachte und fühlte er heute, so dass er sich selbst gar nicht mehr Gargoyle nannte. Wie es für Dämonen typisch war, stand er sich selbst am nächsten, und somit ging es ihm weniger um Cynthias Wohlbefinden als vielmehr um das Abwägen, was ihm wichtiger war. Die Freiheit oder dieses leuchtende kleine Spielzeug, das sein Herz erfreute, seine Lenden zum Glühen brachte. Ein Mädchen wie sie hatte er nie zuvor gesehen und vermutlich würde er ein solches auch nicht allzu schnell wiederfinden.
»Du weißt, dass du dich auf mein Wort verlassen kannst«, drang Ovidas Stimme in sein Bewusstsein vor. Bisher hatte sie tatsächlich immer ihr Wort gehalten, und es gab auch dieses Mal keinen Grund für ihn, an ihr zu zweifeln. Und trotzdem fiel ihm die Entscheidung nicht leicht. Cynthia würde ihre Seele nicht einfach so verkaufen, wie es ihr Bruder getan hatte. Er würde also schwere Geschütze auffahren müssen, um sie zu überzeugen. Das war eine Herausforderung. Und er liebte Herausforderungen … Dennoch konnte er nicht einfach zusagen. Etwas hielt ihn davon ab, hemmte ihn. Er wusste nicht, was es war, doch es war stark.
»Jetzt sag mir nicht, dass du für dieses Mädchen auf deine Freiheit verzichtest. Ich bitte dich.« Ovida lachte und machte keinen Hehl daraus, dass sie ihn offensichtlich für den größten Dummkopf aller Zeiten hielt.
»Du könntest wieder dein eigener Herr sein, eigene Entscheidungen treffen, hingehen, wohin du willst. Aber bitte, wenn dir das nicht so wichtig ist …«
Sie deutete zur Tür. Mandrake blieb sitzen, als wäre er in seinem Stuhl festgewachsen. Angestrengt schloss er die Augen. Cynthia war nicht mehr als ein netter Zeitvertreib. Ihr Leuchten war nicht für ein Wesen wie ihn bestimmt. Früher oder später würde er es ohnehin verlieren. Und dann stand er vor dem Nichts, hatte noch immer Schulden bei Ovida, war ihr Eigentum. Steh dir selbst am nächsten, wiederholte er die oberste Regel der Dämonen.
»Einverstanden«, sagte er, doch seine Stimme klang müde, und seine Zunge fühlte sich schwer an. Ovida lächelte erfreut und setzte die Brille wieder auf. »Sehr gut. Aber du musst dich beeilen, Mandrake, bevor dir ein anderer die Beute wegschnappt. Meine Dämonen sind überall. Sie wissen von der Kleinen, und sie sind sehr interessiert.«
Mandrake nickte nur. Er war nun entschlossen, alles zu tun, um seinen letzten Auftrag zu erfüllen, der noch zwischen ihm und seiner Freiheit stand. Ein
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