Gib mir deine Seele
gehalten.
»Entschuldigung!«, flüsterten die fremde Person und sie gleichzeitig. Er, die tiefe Stimme hatte ihn als Mann verraten, lachte leise. »Komm«, sagte er und nahm Pauline wie selbstverständlich an der Hand. »Von dort drüben können wir hören und sehen.«
Gemeinsam lauschten sie dem Gesang und sahen aus der Dunkelheit zu, wie sich erst Frasquita und Mercédès und dann auch Carmen in einer Szene aus dem dritten Akt die Karten legten. Der Regisseur, der am Rand der Bühne stand, beobachtete die Sängerinnen dabei ganz genau, weil er mit ihrem Ausdruck beim letzten Mal noch nicht zufrieden gewesen war.
Pauline fand, dass Carmen ihre Rolle wunderbar spielte, deshalb blickte sie von der Bühne weg zu ihrem unbekannten Begleiter und versuchte zu erkennen, mit wem sie da zusammengestoßen war. Sein Gesicht lag im Schatten, dennoch war sich Pauline sicher, dem Mann noch nie zuvor begegnet zu sein. Er roch gut und war ihr nicht unangenehm. Also ließ sie es zu, dass er so dicht neben ihr stand. Ihre Körper berührten sich beinahe, aber es war nichts Erotisches dabei.
Nun betrat Alexander Maisuradse, der Escamillo, die Bühne, und nach einem kurzen Gespräch mit Martin, der am Klavier saß, stimmte er »Si tu m’aime, Carmen« an.
»Ah, mein Konkurrent«, murmelte der Mann hinter ihr, und Pauline dachte, dass sie wahrscheinlich mit dem alternierenden Escamillo auf der Bühne stand. Ebenso wie Jonathan Tailor war auch er in anderen Engagements gebunden gewesen und wurde erst in dieser Woche erwartet.
»So«, der Regisseur klatschte in die Hände. »Der nächste Herr, die Dame bleibt dieselbe!« Dabei kicherte er meckernd, wie jedes Mal, wenn er diesen Spruch machte, den außer ihm und ein oder zwei Herren aus dem Chor niemand lustig fand. Der Mann hinter ihr stöhnte auf, legte ihr einen Arm um die Schulter und nahm sie mit sich auf die Bühne. Sofort verstummte jedes Gespräch, und alle blickten in ihre Richtung.
Verwundert sah Pauline auf ihren Begleiter. Neben ihr stand Jonathan Tailor, der sehnsüchtig herbeigewünschte Bühnenpartner Don José. Noch immer standen sie so dicht nebeneinander, als kennten sie sich bereits seit Jahren.
»Auch das noch!« Erschrocken hielt sie sich die Hand vor den Mund. Wie peinlich!
Ana hüstelte amüsiert, und Sandy warf ihr einen vernichtenden Blick zu.
»Jonathan«, sagte Tailor mit einer kleinen Verbeugung zu Pauline, wobei er netterweise vorgab, ihre Bemerkung nicht gehört zu haben.
»Pauline Roth«, gab Pauline zurück und fügte sicherheitshalber hinzu: »Die Micaëla.«
Tailor stutzte, sah sie an und lachte laut. »Da habe ich ja einen zauberhaften Fang gemacht. Was meinst du?« Er legte den anderen Arm um Carmens Schultern und zog diese an sich. »So eine junge Micaëla hatten wir noch nie, was?«
»Hübsch und begabt ist sie noch dazu.« Carmen zwinkerte Pauline zu. »Aber am Ende liebst du nur mich. Vergiss das nicht!«
Der Regisseur tippte vielsagend auf seine Armbanduhr. »Herr Tailor, wir haben ja schon alles so weit besprochen. Wenn ich Sie bitten dürfte? Erster Akt. Wir fangen in der sechsten Szene an: ›Was will sie mir damit sagen …?‹Don José steht auf und bückt sich nach der Blume.«
Carmen zwinkerte Pauline zu und flüsterte: »Das schaffst du!« Dann verließ sie die Bühne.
Wahrscheinlich war es gut gemeint, und Pauline lächelte pflichtschuldig. Doch sie wollte sich jetzt nicht ablenken lassen und ging zu ihrem Platz in den Kulissen. Hinter sich hörte sie Getuschel. Garantiert war das halbe Ensemble dort, um Jonathan Tailor singen zu hören, einige davon mochten darauf hoffen, dass Pauline versagte. Den Gefallen tue ich euch nicht! , schwor sie sich, und als hätte sich ein Schalter in ihrem Inneren umgelegt, versank sie in ihrer Rolle, wurde zu Micaëla und lauschte der Stimme ihres geliebten Don José. Lief zu ihm, zuerst bang, dann beglückt, und verbarg sich am Ende verlegen in den Kulissen, wie es ihr die Regie vorschrieb. Sie kehrte erst wieder in die reale Welt und auf die Bühne zurück, als die Musik verstummt war.
»Tja, was soll ich sagen …«, begann der Regisseur.
Jonathan fiel ihm ins Wort. »Großartig!« Er gab Pauline rechts und links einen Kuss auf die Wange und rief: »Carmen, wärst du mir sehr böse, wenn ich mich am Ende doch für meine süße Micaëla entschiede?«
Carmen, die auch im echten Leben so hieß, drohte ihm lachend mit dem Zeigefinger. »Untersteh dich! Welch ein Glück, dass du keine Wahl
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